Familienunternehmen stehen vor dem größten Umbau in ihrer Unternehmensgeschichte

18. Juni 2020

Wie ein digitales Zielbild Orientierung & Sicherheit bei der digitalen Transformation liefern kann

“Unser Familienunternehmen ist ein Geschenk und das oberste Ziel ist, dieses Geschenk erfolgreich in die nachfolgende Generation fortzuführen.” Dieses Ziel steht sinnbildlich für das Wirtschaften von Familienunternehmen: Erhalt des Familienunternehmens für die nachfolgenden Generationen vor Gewinnmaximierung. Nachfolgend wird diese Kerneigenschaft im Kontext der Digitalisierung betrachtet.


Dieser Beitrag ist zunächst im Magazin IM+io (Juni 2020)
unter der Überschrift „Tradition vs. Transformation –
Vier Perspektiven für den nachhaltigen Mittelstand“ erschienen.


Die aktuelle etventure Studie zur „Zukunftsfähigkeit der deutschen Unternehmen“ zeigt, das oberste Ziel – der erfolgreiche Übergang in die nächste Generation – ist in Gefahr. Die Ergebnisse zeigen, dass die strategische Bedeutung der digitalen Transformation in den deutschen Unternehmen erstmals seit Erhebung wieder sinkt. Auch wenn sich die Gewichtung nun durch die aktuelle Corona-Krise geändert haben dürfte, grundsätzlich ist es aber überraschend, angesichts eines Themas von dem es heißt, es verändert unser Wirtschaftssystem, unsere Wertschöpfung nachhaltig. 67 Prozent fokussieren laut der etventure Studie die Digitalisierung analoger Prozesse oder schon vorhandener Geschäftsmodelle. Das ist ohne Frage wichtig: So können – zum Beispiel durch den gezielten und „richtigen“ Einsatz von Daten oder neuen Technologien – substanzielle Effekte durch Kostenreduktion und Effizienzsteigerung erzielt werden. Dies sind aber nur die ‚Hausaufgaben‘, die jedes Unternehmen mit Blick auf den technologischen Wandel und die sich verändernden Bedürfnisse ihrer B2B- oder B2C- Kunden zu machen hat. Der Schlüssel, einer der wichtigsten Hebel zu weiterem Unternehmenswachstum, neuen Zielgruppen und neuen Umsätzen liegt aber vor allem in der Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle und im Aufbau von Digitalkompetenzen. Demnach ist der Rückgang bei der strategischen Relevanz der digitalen Transformation kein Indikator für die erfolgreiche Arbeit deutscher Familienunternehmen, sondern eine Besorgnis erregende Entwicklung unserer Wirtschaft.

Im deutschen Mittelstand und bei Familienunternehmen fehlt häufig das Verständnis dafür, wie die Digitalisierung das eigene Produkt beeinflussen kann. Viele Unternehmen sind überzeugt, dass das eigene Geschäftsmodell immer noch auf einem nicht-digitalisierbaren Produkt oder Dienstleistung beruht. Das kann dazu führen, dass die Strategie möglicherweise Maßnahmen der Digitalisierung enthält, aber diese sich letzten Endes nur einer Automatisierung oder Produktinnovation zuordnen lassen.

Mittelstand

Familienunternehmen, die sich gerade in der Sicherheit wiegen, dass ihr Produkt nicht digitalisierbar sei, müssen sich aber mit den vor- und nachgelagerten beziehungsweise komplementären Elementen um ihr Produkt im Kontext der digitalisierbaren Möglichkeiten und Potenziale befassen. Die Fragen, wo künftig die Wertschöpfung in der eigenen Wertkette stattfindet und wie der Kunde bestmöglich auf seiner individuellen Kundenreise digital begleitet werden kann, sind elementar. Aktuell schauen viele deutsche Unternehmen dabei zu, wie es amerikanische und chinesische Unternehmen vormachen, ein optimales Kundenerlebnis abzubilden. Die digitale Transformation muss hierzulande weiter vorangetrieben werden, um Deutschland nicht zu einer Nation von Zulieferern werden zu lassen. In der deutschen Autoindustrie ist das bereits erkennbar, bestätigt auch EU-Kommissar Günther Oettinger:  “Mercedes, Audi oder BMW könnten zu Zulieferern degradiert werden”

Dieses Risiko besteht allerdings nicht nur für größere Unternehmen, sondern kann grundsätzlich auch für alle anderen Unternehmen eine Gefahr darstellen. Gerade bei kleineren Familienunternehmen werden beschränkte finanzielle Mittel häufig als Grund für eingeschränkte Möglichkeiten bei der digitalen Transformation genannt. Der Aufbau von Innovationsschmieden oder Digital-Laboren oder auch Start-Up Beteiligungen sind für kleinere Unternehmen nur bedingt möglich und auch nicht zwingend nötig.

Woran liegt es also, dass diese Potenziale kaum erkannt werden und die Digitalisierung für viele Unternehmen immer noch IT-gesteuerte Automatisierung  bedeutet? Der Grund dafür ist unter anderem, dass Familienunternehmen heute noch verstärkt von der älteren Generation geführt werden und diese oft nur sehr schwer von alten Gewohnheiten und den klassischen Geschäftsmodellen loslassen können. Aus gutem Grund: Über Jahrzehnte sind Familienunternehmen dadurch stabilisiert und letzten Endes erfolgreich geworden. Es ist daher naheliegend, dass die ältere Generation auch noch an den Erfolg in der Zukunft glaubt. Doch durch die digitale Transformation ändern sich gesamte Branchen. Die (digitale) Kundenreise wird neu gedacht und durch branchenfremde Player perfektioniert. Plötzlich schlägt dann ein angenehmeres Kundenerlebnis ein jahrelanges funktionierendes Geschäftsmodell und die damit verbundene Tradition.

Welchen Ansatzpunkt gibt es also, um der Gefahr einer besetzten Kundenschnittstelle durch Branchenfremde vorzubeugen?

Ein strategisches, digitales Zielbild und eine damit verbundene Analyse des Ökosystems kann hierbei ein solider Ausgangspunkt für die digitale Transformation sein, am besten in Zusammenarbeit mit der Nachfolgegeneration und fremden Dritten, die keine Scheu davor haben, Bestehendes in Frage zu stellen und aufzubrechen.

Empfehlenswert ist dabei die Betrachtung von vier Ebenen:

  • Organisationsperspektive (Analyse von vorhandenen Assets und Kernkompetenzen hinsichtlich zukünftiger Relevanz und Wettbewerbsvorteilen)
  • Marktperspektive (Analyse von Markttrends und Entwicklungen, Start-Ups, Analogien, und vieles mehr, die Einfluss auf die zukünftige (digitale) Ausrichtung haben)
  • Nutzerperspektive (Probleme und Bedürfnisse der Kunden sowie Kunden von Morgen als auch der Endkunden)
  • Analyse des Ökosystems

Vor allem der Blick aus der Marktperspektive auf den Nutzer und die Analyse des Ökosystems werden häufig unterschätzt. Es steht nach wie vor häufig noch die Annahme im Raum, dass die Probleme und Bedürfnisse der Kunden im B2B-Kontext oder sogar des Endkunden bekannt sind. Vertriebler kennen ihre Kunden schließlich am besten – so ein Zitat, dass in diesem Kontext häufig fällt. In den direkten Dialog mit dem eigentlichen Nutzer zu gehen, fällt vielen Unternehmen schwer, weil sie es schlichtweg nicht gewohnt sind und nicht kennen.

Eine Ökosystemanalyse ist sicherlich notwendig, um Potenziale abseits der Kernprodukte aufzuzeigen, neue Player im Markt zu erkennen und mögliche Partner zu identifizieren. Doch der wohl wichtigste Punkt hierbei ist, dass eine erfolgreiche digitale Transformation mit allen Facetten nicht im Alleingang gelingen kann. Im Gegensatz zu den typischen Verhaltensmustern deutscher Familienunternehmen, kann nicht mehr alles eigenständig hinter verschlossenen Türen entwickelt und vertrieben werden. Stattdessen können Partnerschaften mit verschiedenen Teilnehmern im Ökosystem schneller zum Erfolg führen.

Ein passendes Beispiel ist die neutrale Innovations- und Digitalisierungsplattform BE5 (Built Environment Focused Innovations, Ventures & Enterprises) – ein Zusammenschluss aus namenhaften Familienunternehmen aus der Baubranche. Unter dem Dach von UnternehmerTUM, dem Zentrum für Innovation und Gründung an der TU München, bietet BE5 als neutrale Plattform etablierten Unternehmen, Start-ups und Talenten die Chance, durch Austausch, Information und Kooperationsmöglichkeiten gemeinsam innovative Lösungen und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Nach einer Selektierung vielversprechender Ideen bekommen diese im Rahmen der Hackdays die Möglichkeit, die Idee weiter auszuarbeiten und gegebenenfalls erste Prototypen zu entwickeln. Bei entsprechendem Erfolg hilft dann ein Inkubationsprogramm mit optimalen Bedingungen bei der entsprechenden Umsetzung.

Mit den umfangreichen Erkenntnissen aus den Dimensionen eins bis vier entstehen Handlungsfelder, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Chancen aufzeigen, aber vor allem auch die Risiken und Bedrohungen. Die umfangreiche Analyse liefert zudem eine höhere Sicherheit, welche Handlungsempfehlungen und Maßnahmen wirklich notwendig sind und den größten Impact haben werden. Gegenüber der klassischen Exploration von Ansätzen für digitales Neugeschäft, gewährleistet dieses Vorgehen ein Bedürfnis vieler Familienunternehmen – die Sicherheit und Vertrauen, das Richtige zu tun: Mit der Erkenntnis, dass der Fortbestand des eigenen Familienunternehmens in Gefahr sein könnte, steigt die Bereitschaft für größere Investitionen, die unter normalen Umständen als unverhältnismäßig hoch erscheinen würden.

Daher folgt hier auf oberster Ebene die Empfehlung, die nachfolgende Generation und somit das digitale Mindset fest zu verankern. Die Forschung zu Familienunternehmen zeigt, dass die Umsetzungswahrscheinlichkeit erhöht ist, sofern die Kombination aus alter Generation mit langjähriger Industrieerfahrung in Verbindung mit gut ausgebildeten Nachfolgern gegeben ist.

Auf operativer Ebene steht im Wesentlichen der Faktor Mensch im Vordergrund. Für viele Familienunternehmen bedeutet die digitale Transformation sicherlich auch den größten Umbau des eigenen Unternehmens in der bisherigen Geschichte. Um die Menschen auf dieser Reise mitzunehmen, bedarf es Investitionen in den Wandel des Denkens, der Arbeitsweisen, bestehende Strukturen und letzten Endes der Unternehmenskultur.

Zusammenfassend die vier wesentlichen Aspekte:

  1. Das Thema der digitalen Transformation muss Priorität bleiben. Die Nachfolgegeneration bringt dafür das richtige Mindset mit ins Unternehmen.
  2. Der Umbau des Familienunternehmens durch die digitale Transformation gelingt nur mit den Menschen im Unternehmen.
  3. Durch die Erarbeitung eines digitalen Zielbilds kann das Vertrauen und Sicherheit erhöht werden, die anfallenden Investitionen in den kritischsten Handlungsfeldern zu tätigen.
  4. Alleine geht es nicht: Grenzen müssen aufgebrochen und Partnerschaften im Ökosystem gebildet werden.
  5. Ein neues Mindset ist notwendig: Radikaler Fokus auf den Nutzer (von heute und morgen) zusammen mit einem Testing-Mindset, um neue Ideen und Lösungsansätze schnell zu testen.

Abschließend lautet also der Appell an den Mittelstand und an Familienunternehmen: Die Tore für Partnerschaften öffnen und gemeinsam mit den Mitarbeitern im  Unternehmen den größten Umbau des Familienunternehmens aktiv gestalten!


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Autor

Jonas Beck ist mit einem Familienunternehmen aufgewachsen und hat die Besonderheiten der Unternehmensführung als Familienunternehmer auch wissenschaftlich während seines Masters erforscht. Als Entrepreneur für Corporate Innovation und digitale Transformation kennt er also die Unterschiede zwischen Tradition und Moderne. Diese Erfahrung vermittelt er in zahlreichen Projekten – vorzugsweise in der Baubranche.

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