The Unicorn is dead – wie kann die Suche nach disruptiven Ideen gelingen? Teil zwei

08. April 2021

Viele Unternehmen sind auf der Suche nach der einen bahnbrechenden Idee, welche sich nach intensiver Analyse, Kreativworkshops und Beratungsprojekten wie eine Offenbarung auftut. Eine Illusion – es gibt sie nicht, sagt Tobias Ledermann, Principal bei etventure und erklärt im zweiten Teil seines Beitrags „The unicorn is dead“ warum es so schwer ist die „Einhörner“ zu finden. Anhand zwei aktueller Beispiele zeigt er auf wieso es sich nicht um eine Idee, sondern um einen Prozess handelt und wie dieser gelingt.

Wenn das ausgewachsene Einhorn, eine disruptive Geschäftsidee, welche nur noch gefunden werden muss, ein Mythos ist, sollten wir dann die Suche nach disruptiven Innovationen aufgeben? Nein, im Gegenteil. Bereits in meinem ersten Beitrag erkläre ich, warum wir den Begriff „disruptive Ideen“ neu denken sollten. Konkret gesagt: Es handelt sich nicht um eine Idee, sondern um einen Prozess. Eine Disruption besteht aus mehreren Stufen: Sie beginnt in Stufe eins mit direkt umsetzbaren Lösungen begrenzter Wirkung und führt – über eine oder mehrere Zwischenstufen – langfristig zur finalen Stufe mit disruptivem Potenzial. Beispiele dafür finden wir in der Unterhaltungsbranche durch Streamingdienste wie Netflix und die Disruption der Automobilindustrie durch autonome Fahrzeugflotten, die noch bevorsteht.

Das Beispiel Netflix verdeutlicht die Bedeutung der schrittweisen Logik von disruptiven Ansätzen. Hätte Netflix von Beginn an auf Videostreaming gesetzt, wäre es vermutlich auf dem langen Weg bis zur technologischen Reife „verhungert“. Hätte Netflix wiederum diesen Zeitpunkt abgewartet, wäre die Konkurrenz um Amazon, Youtube und Co. in der Lage gewesen den Neuling bereits in der Frühphase auszubremsen. Durch den Einstieg mit einem direkt umsetzbaren Modell hat sich Netflix frühzeitig den Weg für ein disruptives Geschäftsmodell geebnet.

Netflix_disruption


„UBER yourself before you get Kodaked“
Das Potenzial des autonomen Fahrens hingegen – zumindest gänzlich ohne Fahrer/in – ist noch weitestgehend Zukunftsmusik. Dessen Auswirkungen hat mir eine Führungskraft eines führenden deutschen Automobilkonzerns als Ketchup-Effekt beschrieben: „Man weiß nicht genau wann es kommt, aber dann kommt es heftig“. Die Umwälzungen könnten in der Tat gewaltig sein. Sollten autonome Flotten tatsächlich in naher Zukunft unser Straßenbild prägen, wäre nicht nur das Lenkrad obsolet, sondern gegebenenfalls auch Parkplätze, Anschnallgurte und privater Autobesitz. Die Automobilunternehmen würden in der Wertschöpfungskette endgültig hinter Mobilitätsanbietern zurückfallen – es sei denn: sie nehmen die Disruption selbst in die Hand. „UBER yourself before you get Kodaked“ ist  das hierzu passende Sprichwort aus dem Silicon Valley.

Ein gutes Beispiel zur Vorbereitung auf diese anstehende Revolution liefert ausgerechnet der VW Konzern, welcher in den vergangenen Jahren nicht gerade als Tech-Pionier auf sich aufmerksam gemacht hat. Bereits 2017 beschrieb der damalige VW-Digitalchef Johann Jungwirth, wie VW Jahre vor der technologischen Reife den Marktstart eines autonomen Mobilitätssystems stufenweise vorbereitet. Zunächst mit starkem Fokus auf die Nutzerbedürfnisse in einem solchen System. Begonnen hat VW hierbei übrigens mit einem Pilotprojekt im hauseigenen Werksverkehr. Dabei wurde bereits getestet wie Nutzer auf Zusatzservices wie einen mobilen Paket- oder Wäscheservice reagieren. Aktuell ist die Zwischenstufe des mehrjährigen Plans mit dem Mobilitätsservice MOIA in Hamburg und Hannover auf den Straßen zu sehen – noch mit menschlichen Fahrern, aber bereits mit einer Nutzererfahrung, die autonomes Fahren gleicht. Sobald vollautonome Fahrzeuge straßentauglich und zugelassen sind, steht somit auch VW bereits in den Startlöchern, um bei der Mobilität von morgen mitzumischen. Unabhängig davon, dass die Technologie weiterhin einige Hürden zu überwinden hat. Vielleicht kann VW dann auch wieder Tesla entspannt im Rückspiegel beobachten.

In beiden Beispielen ist es ein mehrstufiger Ansatz, mit kurzfristig umsetzbaren und langfristig angestrebten Stufen, welcher das disruptive Potenzial gehebelt hat bzw. noch hebeln soll.  Das mag zunächst trivial klingen. In der Realität werden Ideen aber weiterhin gerne als „zu klein“ und daher nicht geschäftsrelevant oder „zu weit entfernt“ abgetan, anstatt mit sinnvollen Schritten auf die sich abzeichnenden Megatrends der jeweiligen Branche einzuzahlen.

Wie man disruptive Innovationen erfolgreich umsetzt – die Auferstehung des Einhorns

Wie macht man es nun richtig? Wie kann man dem Wandel in einer Branche aktiv begegnen? Die folgenden drei Schritte bieten grundlegende Anhaltspunkte, wie man selbst Geschäftsmodelle mit Disruptionspotenzial entwickeln und umsetzen kann. Um einen wesentlichen Denkfehler zu vermeiden: Es geht nicht darum Ideen zu finden, welche von den internen Führungsgremien für „gut“ empfunden werden. Die entscheidende Frage ist vielmehr: Wie würde es ein Startup schaffen, professionelle Investoren zu überzeugen? Mit dieser Perspektive ist bereits der Grundstein gelegt.

  • Schritt 1: Erstellen Sie disruptive Szenarien und selbstbewusste Zielbilder für Ihr Unternehmen

Gute Lösungen erfordern ein gutes Problemverständnis. Um disruptive Potenziale zu identifizieren ist es daher unumgänglich, ein solides Verständnis über die absehbaren und gegebenenfalls einschneidenden Veränderungen im eigenen Branchenumfeld aufzubauen. Hierzu eignet sich die sogenannte „Future Back” Planung. Statt Vergangenheitsdaten auf die Zukunft zu projizieren – was gerade in Zeiten von großen Veränderungen wenig hilfreich ist – nimmt man Megatrends und relevante Zukunftsszenarien als Ausgangspunkt für seine Planung. Um das Zukunftsbild der eigenen Branche möglichst realitätsnah skizzieren zu können, sollten aufkommende technologische Innovationen (z.B. 3D-Druck), Veränderungen der Kundenerwartungen (z.B. steigende Erwartung an die digitale Nutzererfahrung im Geschäftsumfeld) aber auch die Dynamik im Ökosystem eines Unternehmens (z.B. Wandel von linearen Wertschöpfungsketten zu vernetzen Ökosystemen) gleichermaßen berücksichtigt und beleuchtet werden. Aufbauend auf diesem Zukunftsbild lassen sich disruptive Bedrohungen und Potenziale im eigenen Marktumfeld frühzeitig erkennen.

Nehmen wir das Beispiel des deutschen Stahlhandelunternehmens Kloeckner & Co. Als Händler bildet Kloeckner & Co. derzeit die Zwischenstufe zwischen Stahlherstellern und industriellen Verbrauchern. Mit fortschreitender Digitalisierung werden digitale Plattformen jedoch immer relevanter, auch für das industrielle Umfeld. Ein „Amazon des Stahlhandels“ wäre eine ernsthafte Bedrohung für die zwischengeschalteten Handelsstufen a la Kloeckner. Der bisherige Kloeckner CEO, Gisbert Rühl, hat diese Gefahr bereits vor einigen Jahren erkannt und selbst das Ziel ausgerufen, das „Amazon des Stahlhandels“ errichten zu wollen. Ein existenzielles Risiko wurde zu einer vielversprechenden Chance umformuliert.

Die Formulierung von selbstbewussten und ambitionierten Zielbildern bildet die Brücke zwischen Zukunftserwartung im Branchenumfeld und der eigenen strategischer Marschrichtung. Sie sind gleich in mehrfacher Hinsicht hilfreich. Sie bieten einen klaren Nordstern für die weitere Ausrichtung und sie geben Stabilität in einem unsicheren Umfeld. Selbst wenn einzelne Ideen scheitern, was keinesfalls unüblich ist, bleiben die Zielbilder bestehen und können mit neuen oder angepassten Ideen konsequent weiterverfolgt werden. Wichtig ist hierbei, immer die Unternehmenslenker in die Entwicklung der Zielbilder miteinzubeziehen. Nur wenn das Management diese als eigene strategische Direktive verstehen, sind sie auch nachhaltig belastbar.

  • Schritt 2: Nutzen Sie einen mehrdimensionalen Ansatz, um zukunftsweisende Ideen zu entwickeln

Der phänomenale Erfolg der Tech-Giganten und Einhörner lässt sich sehr stark mit einem Erfolgsfaktor in Verbindung bringen: radikale Nutzerzentrierung. Die Bedürfnisse der Kunden werden stets in den Mittelpunkt gestellt und Geschäftsmodelle konsequent darauf ausgerichtet. Am prägnantesten hat es wohl Amazons Gründer Jeff Bezos mit seiner Vision auf den Punkt gebracht, dass „kundenorientierteste Unternehmen der Welt“ schaffen zu wollen.

Für die Umsetzung der Nutzerzentrierung im Innovationsprozess hat sich der Design Thinking Ansatz als bewährte Methode herauskristallisiert. Will man Design Thinking jedoch im Kontext von disruptiven Innovationen verwenden, sind einige Anpassungen und Erweiterungen der Methodik erforderlich. Unter anderem basiert Design Thinking auf der Befragung und Beobachtung von Kunden, um deren Bedürfnissen systematisch auf den Grund zu gehen. Disruptive Potenziale zielen jedoch weniger auf die heutige Perspektive der bestehenden Kunden ab, sondern vielmehr auf die zukünftigen Kundenbedürfnisse. Daher müssen neben der heutigen Kundensicht auch weitere Faktoren berücksichtigt werden, etwa die Veränderungen der Wertschöpfungskette, neue technische Möglichkeiten oder die Entwicklung von Startups im Branchenumfeld. Es ist demnach ein mehrdimensionaler Ansatz erforderlich.

Auch die die Ideengenerierung an sich ist anspruchsvoller. Klassische Design Thinking Workshops reichen nicht aus. Stattdessen kann die Ideenfindung mit innovativen Workshop Formaten wie „Kill-the-Company“ Workshops, bei denen die Teilnehmer die Rolle von externen Disruptoren einnehmen, welche das bestehende Geschäftsmodell angreifen sollen, angereichert werden. Auf dieser Grundlage lässt sich schnell eine Vielzahl an relevanten Ideen generieren. Einzelne Ideen werden hierbei entweder das langfristige, disruptive Potenzial widerspiegeln oder die heute mögliche Einstiegsstufe darstellen.

disruptiveinnovationen

  • Schritt 3: Beschreiben Sie den Weg zur Disruption anhand des „Stufenmodells für disruptive Innovationen“

Wie bereits dargelegt, lassen sich disruptive Innovationen in aller Regel nur mithilfe eines mehrstufigen Ansatzes in die Realität umsetzen. Aus diesem Grund müssen auch die Ideen bereits mehrstufig beschrieben werden. Konkret geht es um die Frage: Wie komme ich von einer zeitnah umsetzbaren Idee zu einer Lösung mit langfristig sehr großer Wirkung. Oder umgekehrt: Mit welcher Einstiegslösung kann ich heute bereits die ersten Schritte zu einer langfristig disruptiven Lösung anstoßen? Wenn ich morgen das „fliegende Auto“ in die Lüfte bringen will, wie kann ich heute bereits den ersten wichtigen Schritt in diesem Marktumfeld gehen? Mit einer einfachen Ideenfindung ist es nicht getan. Es ist eine Roadmap erforderlich, die bereits heute beginnt und in der letzten Ausbaustufe ihre volle Wirkung entfaltet und die heutigen Lösungen in den Schatten stellt.

Ich kann mich noch zu gut daran erinnern, wie Elon Musks Vorhaben, die Branche mit Elektrofahrzeugen aufzumischen, bei meinen Ansprechpartnern aus der deutschen Automobilbranche noch vor wenigen Jahren belächelt wurde. Das Produkt sei nicht massentauglich, die Akkutechnologie nicht kompetitiv mit Verbrennungsmotoren, von der Verarbeitungsqualität ganz zu schweigen. „Soll er doch an seinem Nischenprodukt werkeln, der liebe Herr Musk. Wir machen weiter das eigentliche Geschäft“. So ging es vermutlich auch Compaq und IBM als Apple mit seinem ersten iMac zunächst nur passionierte Designliebhaber in seinen Bann gezogen hat, oder großen Medienunternehmen, als Google und Facebook mit ihren flapsigen Erstprodukten auf dem Markt aufgeschlagen sind. Das war jeweils die häufig belächelte „Stufe 1“ einer disruptiven Innovation. 3D-Drucker als alternative Fertigungsmethode, Roboterprototypen für die Umsetzung der “Last Mile Delivery”, automatische Spurhalteassistenten – das alles sind Themen, welche in einer Nische beginnen, aber jeweils klar auf einen langfristigen und sehr viel größeren Trend abzielen.

Wer disruptiv sein will, sollte sich genau daran ein Beispiel nehmen. Scheuen Sie sich nicht vor kleinen Einstiegslösungen mit begrenzter Marktwirkung. Definieren Sie eine langfristige Roadmap, welche auf eine mutige und ambitionierte Vision einzahlt und verstehen Sie diese Roadmap als die „disruptive Idee“.

  • Umsetzungstipp 1
    Schützen Sie die Ideen in der frühen Phase, sonst kommen sie schnell unter die Räder. Vor allem weil sie langen Atem erfordern und in Stufe 1 per Definition keinen bemerkenswerten wirtschaftlichen Impact haben. Der berühmte amerikanische Innovationsforscher und Namensgeber der „disruptiven Innovation“ Clayton Christensen hat diese Zwickmühle bereits 1997 als „Innovator’s Dilemma“ beschrieben.
    Ein Hinweis noch: Wenn Sie diese Wegbeschreibung als festen Plan verstehen, ist ein Scheitern geradezu vorprogrammiert. Auf der Reise zur disruptiven Vision kann und wird viel passieren. Ein hohes Maß an Flexibilität ist Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Weggestaltung. Wenn Sie in Einbahnstraße geraten, sollten Sie umdrehen und einen neuen Weg einschlagen. Und hierauf sollten Sie schon vor Abreise vorbereitet sein.
  • Umsetzungstipp 2
    Neben der richtigen Vorgehensweise (Stufenmodell für disruptive Innovationen) ist auch die Unternehmenskultur entscheidend. Sie werden unmöglich erfolgreich neue Einhörner hervorbringen, wenn bei den Beteiligten das entsprechende Mindset fehlt. Im nächsten Blogbeitrag geht es daher um das „disruptive Mindset” und um die Frage, wie sich dieses in Ihrer Unternehmung verankern lässt.


Wer diese Schritte konsequent verfolgt, hat gute Chancen die Veränderungen in seinem Branchenumfeld für sich zu nutzen und bei den großen Themen von Morgen aktiv mitzumischen. So lassen sich sogar Einhörner zum Leben erwecken. Und totgesagte leben bekanntermaßen länger.

Sind Fragen zum Thema disruptive Geschäftsmodelle aufgetaucht? Ihr seid auf der Suche nach Eurem Einhorn? Dann sprich mich gerne an. Wir begleiten Euer Unternehmen auf dieser Reise: 

Tobias LedermannTobias Ledermann:
Principal
tobias.ledermann@etventure.com


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Autor

Tobias Ledermann leitet digitale Innovationsprojekte. Sein Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von neuen Geschäftsmodellen und dem Aufbau von Digitaleinheiten. Als Agile Coach unterstützt er zudem die Befähigung von Mitarbeitern im digitalen Wandel.

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