Wo einst “Digital Natives” in hippen Büros an der Zukunft experimentieren und eine neue digitale Revolution an den Start bringen wollten, macht sich nun Frustration breit. Die Rede ist von Innovation Units, auf die viele Unternehmen große Hoffnung bei der digitalen Transformation gesetzt haben. Nicht erst mit der aktuellen Corona Krise, aber durch diese noch einmal zusätzlich beschleunigt, wächst die Ernüchterung: Budgets werden gekürzt oder ganze Innovationsschmieden werden geschlossen. Warum ist das so? Welche Fehler in der Vergangenheit gemacht wurden und warum Digitaleinheiten dennoch ein elementarer Bestandteil der Innovationsstrategie sind, erklärt unsere neue Blogreihe unserer Innovation Unit-Gilde.
Wie Innovationseinheiten die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen sichern
Egal ob Digitaleinheit, Innovationseinheit, Innovation Lab, Hub, Incubator oder Accelerator – sie alle beschreiben ein institutionalisiertes Innovationsmanagement in Unternehmen und haben damit vor allem ein Ziel: die digitale Transformation der Unternehmen voranzutreiben, indem sie die bestehenden Geschäftsmodelle hinterfragen und einen Kulturwandel erwirken.
Die Vision, neue Geschäftsmodelle aufzubauen, um mit dem Digitalisierungstrend und der jungen Start-up-Konkurrenz mithalten zu können, wurde ursprünglich von Google angetrieben. Sie haben 2010 ihr erstes Zukunftslabor Google X hochgezogen und galten damit weltweit als Maßstab. Zehn Jahre später gibt es in deutschen Unternehmen etwa 230 Innovationseinheiten, die sich fast alle mit der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle auseinandersetzen – jedes Dax-30-Unternehmen betreibt im Schnitt drei Digitaleinheiten und auch der Mittelstand holt auf. Das bestätigt auch die aktuelle etventure Studie: 56 Prozent der deutschen Großunternehmen haben Freiräume in Form von internen und externen Einheiten geschaffen, die für die Umsetzung eigener Ideen und Projekte genutzt werden können. Doch viel zu selten scheint die Digitaleinheit wirklich zu zünden – viele Startups zeigen sich unzufrieden mit den Kooperationen, Vorstände hatten auf große Innovationen gehofft und bleiben enttäuscht zurück. Derart in der Kritik stehend, drohen Innovation Units, insbesondere in der aktuellen Corona-Situation, ein Opfer des Krisenrotstiftes zu werden.
In der Hoffnung der Digitalisierungswelle etwas entgegen zu setzen hat man in alle Richtungen ausprobiert
Zu viele Organisationen scheitern mit ihren Innovationsvorhaben und speziell -einheiten, vor allem weil kein klares Ziel formuliert wurde und der eigene Platz im Ökosystem unklar ist. “Eines der häufigsten Probleme, die wir feststellen ist, die zu hohe Erwartungshaltung und die Hoffnung auf schnelle Erfolgsergebnisse und neue disruptive Geschäftsmodelle. In der Hoffnung der Digitalisierungswelle etwas entgegen zu setzen hat man in alle Richtungen ausprobiert und versucht alle Arten von Innovation abzudecken: von der Kerngeschäftsoptimierung, Erweiterungen nah am Kerngeschäft bis hin zu Ideen für neue zukunftsgerichtete Geschäftsmodelle und Investitionen in Startups. Oftmals wird ohne hinreichende Zielvorgaben gearbeitet und gleichzeitig ist die Strategie gar nicht klar”, berichtet Ilona Leubner, Projektmanagerin bei etventure und Expertin für Digital Einheiten, aus der Praxis. Sie leitet das Innovation Unit Competence Center bei etventure.
Statt „einfach mal zu machen“, sollten Digitaleinheiten fokussiert, mit Weitsicht, aber auch der nötigen Flexibilität für Adaptionen angegangen werden, um sich damit die Möglichkeit zu geben Ziele anzupassen, Geschäftsideen ohne wirtschaftlichen Erfolgschancen zu verwerfen, ein Testing-Mindset zu leben und zu etablieren. Wenn eine Geschäftsidee negativ validiert wird, dann auch den Mut haben sie aufzugeben.
Eine Digitaleinheit muss Relevanz für das Kerngeschäft erzeugen
Viele Unternehmen haben vernachlässigt, dass eine Digitaleinheit zunächst Relevanz für das Kerngeschäft entwickeln muss – und dies gelingt nur mit der richtigen Zielsetzung. So kann eine Digitaleinheit beispielsweise massive Kosten reduzieren, die Effizienz steigern, relevante Daten generieren oder substanzielle Umsätze erwirtschaften. Sobald die Kernorganisation den Impact zu spüren bekommt und der Nährboden gesät wurde, kann der Spirit übertragen werden, damit disruptive Geschäftsmodelle eine Chance haben. “Wir haben verschiedene Innovationseinheiten von der Konzeptionsphase, zur aktiven Phase bis hin zu einer Neuausrichtung erfolgreich begleitet. Dabei haben wir gelernt, dass sich die Zielsetzung je nach digitalen Reifegrad und Erfahrungswerten der Innovationseinheit ändern und angepasst werden muss. Bei einem geringen digitalen Reifegrad und geringer Erfahrung im Aufbau von neuen digitalen Produkten und Services, sollten Unternehmen mit einer kerngeschäftsnahen Innovationen anfangen und den Fokus nach und nach auszuweiten”, so Ilona Leubner.
“Meine Erfahrung zeigt, dass es vielen Unternehmen nicht gelingt, den Spirit einer Digitaleinheit in die Breite des Unternehmens zu bringen – und vor allem substanziell Umsatz zu generieren”, bestätigt auch Philipp Depiereux, Gründer & Geschäftsführer von etventure. “Es reicht nämlich nicht, dass ein paar kreative Köpfe eine Vielzahl an Ideen generieren, die andere dann umsetzen müssen. Umgekehrt sollten Mitarbeiter ihre Probleme nicht mehr nach oben delegieren können. Wir haben zum Beispiel Design-Thinking-Schulungen mit tausenden Mitarbeitern gemacht. Die Teilnehmer lernen, die echten Kundenprobleme zu erkennen, Ideen zu entwickeln, agil zu arbeiten und vieles mehr. Alles, damit die Mitarbeiter ihre Probleme selbst lösen können. Ich kenne allerdings auch Digital-Labore, die jahrelang vor sich hin arbeiten, ohne dass fürs Unternehmen etwas Substantielles heraus kommt.”
Beispiel Daimler: Der Daimler Innovation Unit Lab1886 ist nicht gelungen, echten Mehrwert für das Kerngeschäft zu schaffen
Ein aktuelles Beispiel dafür ist das Digitallabor Lab1886 von Daimler, das gerade auf dem Prüfstand steht. Es wurden zwar keine Moonshot-Startups gegründet oder die komplette Automobilbranche umgekrempelt, aus dem Lab gingen aber immerhin das Carsharing-Projekt Car2Go und die Mobilitäts-App Moovel hervor. Dennoch hatte Daimler-Chef Ola Källenius angekündigt, in etlichen Bereichen abseits des klassischen Automobilgeschäfts sparen zu wollen und in diesem Zusammenhang auch das Lab1886 gegebenenfalls zu stoppen. Dies zeigt, was dem Lab1886 offensichtlich nicht gelungen ist: Echten Mehrwert für das Kerngeschäft zu schaffen. “Was Daimler braucht, sind keine Startup-Experimente, sondern neue Geschäftsmodelle, neue Innovationsprozesse und radikale Nutzerzentrierung, die auf das Kerngeschäft einzahlen”, so Philipp Depiereux. “Disruptive Innovationen sind für bestehende Kunden und die Kernorganisation zunächst irrelevant. Vielmehr sollte ein Unternehmen wie Daimler zunächst daran arbeiten, sein bestehendes Geschäftsmodell zu transformieren. Und wenn diese Ziele entsprechend klar festgelegt wurden, kann auch die Umsetzung erfolgreich gelingen.” Das bestehende Geschäftsmodell zu perfektionieren beherrscht beispielsweise ein Unternehmen wie Tesla wie kein Zweites. So werden beispielsweise über Nacht neue Softwareupdates eingespielt. Sobald die Kunden sich erneut mit dem Wlan verbinden, werden komplett neue Funktionen freigeschaltet. Das ist ein Service, auf den man bei vielen deutschen Autobauern noch lange wartet.
Als Randnotiz sei noch erwähnt: Der bekannteste Chef der Einheit, der Franzose Jerome Guillen, stieg inzwischen zu einem der wichtigsten Manager des Elektroauto-Marktführers Tesla auf. Bei Tesla scheint man der Zukunft gerade generell näher zu sein als Volkswagen, Daimler, BMW & CO. Dies lässt sich – nicht nur, aber recht plakativ – am Aktienkurs ablesen, der kürzlich erstmals seit dem Börsengang die 1000-Dollar-Marke überschritt. Das ist eine Verdreifachung seit Mitte März! Umgerechnet ist der Elektroautobauer nun rund 164 Milliarden Euro wert und damit mehr als die oben genannten Unternehmen zusammen – rund 156 Milliarden Euro.
Digitaleinheiten – immer noch essentieller Bestandteil für erfolgreiche Innovationsarbeit
“Aus unserer Erfahrung lohnt sich eine Digitaleinheit immer, auch monetär – wenn man es richtig macht”, so Philipp Depiereux während Ilona Leubner ergänzt: ”Im Grunde genommen ist eine Digitaleinheit der einzige Weg, um echte Innovation, die auch das Kerngeschäft in Frage stellen können, in die Kernorganisation zu tragen. Also Disruption nicht zu scheuen, sondern selbst herbeizuführen.”
Was heißt das genau? Jeder redet über Disruption im Sinne der Zerstörung von Unternehmen oder gleich ganzer Industriezweige durch große Digitalplayer oder Startups. Disruption sollte jedoch wesentlich pragmatischer und konstruktiver gesehen werden. Disruption ist überall: Im Prinzip ist alles Neue, das etwas Altes ablöst im weitesten Sinne disruptiv – seit je her. Es ist ein logischer Schritt bei der Digitalisierung, wenn klassische, analoge Vertriebs- und Kommunikationswege etwa durch ein Serviceportal abgelöst werden, über das dann automatisiert Bestellungen oder Informationen wie Lagerbestände, Datenblätter und Co abgewickelt werden – und er ist disruptiv. Es bedeutet im ersten Schritt, sich nicht die Kundenschnittstelle von Startups oder Tech-Unternehmen oder direkten Wettbewerbern streitig machen zu lassen, sondern selbst einen digitalen Kanal zum Kunden zu entwickeln und diesen massiv auszubauen.
Menschen, die von solchen Veränderungen unmittelbar betroffen sind und möglicherweise um ihren Job fürchten, fällt das naturgemäß schwer. Daher muss auch dieser erste Schritt bereits gut aufgesetzt und eng durch das Top-Management begleitet werden. Für die Veränderungsprozesse müssen Räume und Strukturen für mehr Kreativität und Eigenverantwortung geschaffen werden – idealerweise fernab eines: “Das haben wir schon immer so gemacht.”
“Im geschützten Raum”, so Philipp Depiereux Gründer und Geschäftsführer von etventure, “kann man grundstäzlich sehr schnell Lösungen prototypisch entwickeln und fortlaufend testen. Auch scheitern ist hier erlaubt. Hat man eine Lösung erfolgreich validiert und kann aufgrund von Kundendaten zeigen, dass sie funktioniert, spielt man das in die Kernorganisation zurück. Dieser Transfer ist wichtig.”
Beispiel Klöckner & Co: Innovation Unit kloeckner.i schafft Grundlage für Milliardenumsätze in der Kernorganisation
Dass eine Digitaleinheit ein Erfolgsmodell ist, beweist etwa Klöckner & Co. Gemeinsam mit etventure verordnete sich der Stahlhändler 2014 ein umfassendes Digitalisierungsprogramm, um der Konkurenz aus China im Stahlgeschäft weiter Paroli bieten zu können. Aus einer Innovation Unit in Berlin ging schließlich kloeckner.i hervor. Die Digitaleinheit sollte völlig frei von der Kernorganisation agieren können, aber nicht jahrelang in den Wolken schweben, sondern handfeste Geschäftsmodelle liefern, und zwar binnen Monaten. Nach drei Monaten stellte kloeckner.i ein Kontaktportal online, in dem Kunden ihre Stahl-Bestellungen organisieren können. Das Portal wurde zu einem digitalen Marktplatz für den Stahlmarkt, mit dem das Unternehmen heute Umsätze in Milliardenhöhe erzielt. Zuvor hatte man es auch bei Klöckner im eigenen Unternehmen versucht, doch wegen der großen Zahl an Bedenkenträgern hat man dies schnell eingestampft.
Aber nicht nur umsatzseitig hat sich die Investition in die Digitalisierung der Kundenschnittstelle über Innovation Unit gelohnt. Auch die aktuelle Corona-Krise hat den Stahlhändler weniger stark getroffen, als Mitbewerber. “Die Fähigkeit, unsere Produkte komplett über digitale Kanäle anzubieten, hat uns extrem geholfen, die Zeit bestmöglich zu überstehen“, Rühl im ChangeRider – ein Non-Profit Video- und Podcastformat von Philipp Depiereux. Die Verkäufe seien gerade zu Beginn der Krise überproportional gestiegen, weil viele Wettbewerber schlicht oftmals gar nicht lieferfähig waren. Für Rühl ist daher weniger die aktuelle Krisenbewältigung ein Thema, sondern vielmehr die Frage, wie Klöckner & Co die Transformation jetzt noch schneller umsetzen kann. Sein Ziel: Mithilfe von Technologien wie Artificial Intelligence oder auch Robotics sollen sämtliche Kernprozesse vollkommen automatisiert werden. „Genau wie bei Amazon, dem größten Retailer der Welt, der keinen einzigen Verkäufer beschäftigt – das ist im Grunde genommen auch für mich der Weg zur Digitalisierung.”
Sich die Zukunftsfähigkeit erhalten
In Krisenzeiten wie diesen empfiehlt es sich, sich auf kurz angelegte, gewinn-versprechende Innovationsprojekte zu konzentrieren und nicht unbedingt den großen Wurf wagen zu wollen, dessen Effekte erst langfristig sichtbar werden. Im ersten Schritt ist es also oftmals sinnvoll, das Bestandsgeschäft zu optimieren und seine “Hausaufgaben” zu machen, um auf diesem Weg kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und zu erhalten. Beispielsweise hilft es bereits Kostenziele zu realisieren, indem die Effizienz in der Produktion erhöht wird und manuelle Prozesse digitalisiert werden.
Zeitgleich bietet sich gerade jetzt die Chance, dass bisherige Setup zu evaluieren und kluge Entscheidungen über den Aufbau oder die Weiterführung der Digitaleinheit zu treffen. Denn eines wurde durch die Krise auch deutlicher denn je: die Arbeitswelt wird sich nun radikaler und schneller digitalisieren, als angenommen. Für die digitale Unternehmensstrategie ist nun also Fingerspitzengefühl und Weitsicht angesagt. Unternehmen könnten aus den Erfahrungen und Fehlern anderer lernen, die schon auf dem Weg sind.
Die Frage sollte also nicht sein, Digitaleinheit ja oder nein: “Versuchen Sie den richtigen Fokus zu setzen, Ihre Innovation Unit an den Unternehmenszielen auszurichten und die richtigen Themen anzugehen. Gegebenenfalls ist ein Strategie-Shift für Ihre Innovation Unit sinnvoll, um auf den Erfolg der Kernorganisation einzuzahlen”, so Leubner.
In unseren folgenden Beiträgen werden Sie erfahren, wie Sie eine optimale Innovationseinheit aufbauen, welches die größten Scheitergründe sind und wie sie diese verhindern können, weitere Praxisbeispiele aus unserer täglichen Erfahrung im Aufbau einer erfolgreichen Innovation Unit und vieles mehr.
Sie haben Fragen zum Thema Digital Einheiten?
Dann sprechen Sie uns gerne an:
digitalisierung@etventure.com
Die etventure Innovation Unit Gilde bündelt die Kompetenzen und Expertise für die optimale Planung, Umsetzung und die langfristig erfolgreiche Verankerung von Innovationseinheiten für unsere Kunden.
Neben der praktischen Umsetzung bei Kunden vor Ort, arbeitet die Gilde an neuen Lösungsansätzen durch die systematische und kontinuierliche Aufbereitung von neuen (wissenschaftlichen) Erkenntnissen, die Beobachtung von aktuellen Markttrends und Learnings aus Erfolgsgeschichten in der Praxis.
Das Gilden Kernteam besteht aus: Ilona Leubner, Nora Stark, Lucia Karch, Benjamin Pflaum & Florian Kraus