Noch ist das Rennen nicht verloren

08. Dezember 2020

Plattform-Unternehmen zählen zu den Profiteuren der Corona-Krise. Ein Gastbeitrag aus dem Magazin changement! (Handelblatt Fachverlag) von Jochen Wilms und Christian Reichmann.
Der Wettbewerbsvorsprung von Plattform-Unternehmen ist während der Pandemie ist weiter gewachsen. Damit die deutsche Wirtschaft aufholen kann, müssen die Unternehmen hierzulande die Logiken von plattformbasierten Geschäftsmodellen verstehen und anfangen zu entwickeln. Wie das erfolgreich gelingt berichten Jochen Wilms und Christian Reichmann. Dieser Beitrag ist zunächst im changement! Magazin (Handelsblatt Fachverlag, Juli 2020) unter der Überschrift „Noch ist das Rennen nicht verloren” erschienen.


„Viele deutsche Unternehmen – auch kleine und mittlere – haben eine riesige Chance, für ihre Branche etwas aufzubauen, das Weltklasse ist”, appellierte kürzlich Chemondis-CEO Sebastian Brenner bei einer Veranstaltung des Competence Centers Platforms & Ecosystems von etventure und EY an deutsche Unternehmenslenker. Als Tochter des Chemiekonzerns Lanxess ist Chemondis zum führenden Business-to-Business (B2B) Online-Marktplatz für Chemikalien in Europa geworden – ein Beispiel, das beweist, dass es sich lohnt, aktiv zu werden. „Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, dies umzusetzen, denn wenn wir es jetzt nicht tun, wird es jemand anderes tun”, so Sebastian Brenner weiter.

Erfolgreicher als traditionelle Unternehmen

Die Corona-Pandemie wirkt aktuell wie ein Turbo-Booster der Digitalisierung und offenbart die Herausforderungen, vor denen viele Unternehmen stehen. Die Themen reichen von digitaler Infrastruktur, um das Homeoffice abzubilden, bis hin zur existenziellen Gefährdung des Kerngeschäftes, wenn digitale Kundenschnittstellen im Vertrieb fehlen. Doch es gibt auch Unternehmen, die sich bereits frühzeitig neu aufgestellt haben.

Dazu gehört beispielsweise der Stahlhändler Klöckner, der zu Beginn der Corona-Krise innerhalb kürzester Zeit sehr viele Entscheidungen treffen musste, um dafür zu sorgen, dass Klöckner weiterhin lieferfähig bleibt, was sie aufgrund ihrer digitalen Fähigkeiten sehr gut hinbekommen haben. Die Verkäufe sind gerade zu Beginn der Krise überproportional gestiegen, während viele Wettbewerber oftmals gar nicht lieferfähig waren.

CEO Gisbert Rühl treibt bereits seit Jahren die Transformation des Stahlhändlers zu einem Plattformunternehmen voran und erzielt damit heute schon Umsätze in Milliardenhöhe über digitale Kanäle: „Wir alle mussten erkennen, dass Plattform-Unternehmen erfolgreicher als traditionelle Unternehmen sind. Sie wachsen schneller, sind effizienter und haben niedrigere variable Kosten“, sagte er kürzlich im Podcast ChangeRider von etventure-Gründer Philipp Depiereux.

Das Beispiel zeigt auch, es ist ein kontinuierlicher Transformationsprozess: Von der ersten digitalen Kundenschnittstelle, über den Ausbau digitaler Kanäle und Services sowie einem internen Kulturwandel bis hin zu Rühls eigentlichem Ziel, mit Klöckner ein Amazon des Stahls aufzubauen.

Rühl hat schon frühzeitig erkannt, dass sich jederzeit ein Plattform-Player von außen zwischen Klöckner und den Kunden drängen könnte und dann mit digitalen Geschäftsmodellen den Markt orchestriert. Ihm war klar, sein Unternehmen würde die Kundenschnittstellen verlieren, wenn er sie nicht selbst digital besetzt. „Wenn der Kunde sich eine Plattform wünscht, über die er alle Stahl- und Metallprodukte beziehen kann, dann wird es so etwas zwangsläufig geben. Besser also, man startet es direkt selbst und partizipiert daran“, womit sein Entschluss klar war: Er wollte selbst zum Disruptor der eigenen Branche werden.

Maximale Nutzerzentriertheit

Während bei vielen traditionellen Unternehmen die Kundensicht eine Innensicht bleibt, haben die führenden Plattform-Unternehmen maximale Nutzerzentriertheit perfektioniert. Traditionell geht es im B2B um operationale Exzellenz.

“Immer da zu sein, wo der Kunde ist,
wird in einem sich verschärfenden globalen
Wettbewerb zunehmend überlebenswichtig.” 

Im Tagesgeschäft stehen Themen wie Effizienz und Prozesse im Fokus. Doch nun werden kundenzentrierte Strategien auch die komplizierte Landschaft der B2B-Beziehungen grundlegend verändern. Immer da zu sein, wo der Kunde ist, wird in einem sich verschärfenden globalen Wettbewerb zunehmend überlebenswichtig. Insbesondere, weil sich über die eigenen Unternehmensgrenzen hinweg die wichtigsten Potenziale befinden.

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Digitale Plattformen vernetzen Anbieter und Nachfrager auf Basis der passenden Technologie. Sie dienen als Instrument, um das komplexe dynamische System aus Kundenbedürfnissen und passenden Angeboten zu orchestrieren und abzuwickeln, indem Partner wertstiftend eingebunden werden (zum Beispiel Zulieferer, Zahlungsanbieter, Logistiker), die den Austausch unterstützen und zusätzliche Dienstleistungen bereitstellen.

“Durch die digital vernetzte Wertschöpfung
erhält der Kunde alles aus einer Hand.”

Durch den Zusammenschluss mit Partnern wachsen Plattform-Unternehmen schneller, weil sie auf Ressourcen zugreifen, die sie nicht besitzen. Zudem können sie ihren Kunden auf diese Weise Produkte und Services noch individualisierter, personalisierter und flexibler anbieten und eine optimale Customer Journey – „Kundenreise“ – schaffen. Durch die digital vernetzte Wertschöpfung erhält der Kunde alles aus einer Hand. Dies steigert nicht nur die Wertigkeit des eigenen Angebots, gleichzeitig sorgt die Transparenz und Effizienz von Plattformen dafür, dass Transaktionskosten sinken. Hier verbergen sich auch die fundamentalen Unterschiede gegenüber einem Online-Shop, der eher das klassische Einzelhandelsgeschäft widerspiegelt, über den Produkte von einem einzigen Händler vermarktet und verkauft werden.

Voraussetzung ist die digitale Schnittstelle

Den Online-Shop einfach in eine Industrieplattform umwandeln und schon ist man erfolgreich? Ganz so einfach ist es nicht. Unternehmen haben häufig auch mit internen Widerständen zu kämpfen, etwa wenn Vertriebsmitarbeiter Kunden keine digitale Lösung anbieten wollen, auf der auch Produkte der Konkurrenz verfügbar sind. Unternehmen tappen zudem viel zu häufig in die Falle, die Dinge gleich ganz groß und langwierig aufzuziehen. Es geht vielmehr darum, klein anzufangen und vor allem vom Kunden und dessen Bedürfnissen her zu denken. Die Grundvoraussetzung auf dem Weg zum Plattform-Player ist, die digitale Schnittstelle zum Kunden aufzubauen und – so banal es klingen mag – die Kunden gerade im traditionellen B2B-Bereich an digitale Interaktion zu gewöhnen, um darüber Sales zu generieren.

Dies setzt einen grundlegenden Kulturwandel in der Kernorganisation voraus. Denn wenn sowohl der Vertrieb als auch der Einkäufer auf Kundenseite Angst haben, ihren Job durch Digitalisierung zu verlieren, dann werden der beste B2B-Webshop und erst recht ein Plattformmodell scheitern. Mitarbeiter müssen daher von Beginn an eingebunden, weitergebildet sowie mit neuen Innovationsmethoden vertraut gemacht werden. Der Wandel muss zudem aus dem Top-Management getrieben werden – der CEO muss im Driver Seat sitzen.

Mit einem geschützten Raum starten

Wie lässt sich also gefahrlos und vor allen Dingen schnell starten, ohne dass das Kerngeschäft leidet oder interne Widerstände den Fortschritt ausbremsen? Die Antwort lautet sehr häufig: in einem geschützten Raum. In dieser von der Kernorganisation losgelösten Einheit ist nicht Perfektion gefragt, sondern das Testen und die schnelle Umsetzung von Innovationen und ihre Weiterentwicklung nah an den Bedürfnissen des Nutzers. Geschäftsmodelle oder digitale Services, die im geschützten Raum erfolgreich getestet und validiert wurden, können von der Kernorganisation übernommen oder ausgegründet werden.

Jetzt kommen die Perfektion und die Skalierung. Auch Klöckner hat beispielsweise damals begonnen, indem sie eine Digitaleinheit aufgebaut haben, die einerseits völlig frei von der Zentrale in Duisburg agieren konnte, aber – und hier liegt der Unterschied zu den meisten Digitallaboren hierzulande – nicht jahrelang rumexperimentierte. Sie sollte handfeste Geschäftsmodelle liefern, die dann auch schnell Schritt für Schritt in die Kernorganisation in Duisburg übertragen werden können.

geschützter raum

Auf diese Weise konnte beispielsweise nach drei Monaten ein Kontraktportal online gehen, mit dessen Hilfe Kunden ihre Stahl-Bestellungen organisierten. Das war der initiale Schritt, den analogen Kundenstamm zu digitalisieren. Kunden war es nun möglich, ihre Kontrakte besser nachzuvollziehen, Anfragen zu stellen oder Kontrakte zu erneuern. Die Verhandlungen liefen noch über den Vertrieb, nur die Abrufe wurden automatisiert, ebenso wie die Schnittstelle zum Lager. Klöckner war es nun möglich, den eigenen Lagerbestand zu optimieren und damit bessere Vorhersagen zu treffen sowie eine bessere Preisstabilität zu garantieren. Das Portal wurde zu einem digitalen Marktplatz für den Stahlmarkt, mit dem das Unternehmen heute Umsätze in Milliardenhöhe erzielt.

Entwicklung in drei Phasen

Um sich innerhalb des Zeitalters der vernetzten Wertschöpfung zukunftssicher aufzustellen, brauchen Unternehmen daher auch ein strategisches Plattformkonzept. Sprich: die Einschätzung der Entwicklung von Branchen und Märkten und ein tiefes Verständnis über potenziell relevante Ökosysteme und ihre Handlungsoptionen in diesen.

Welche Synergien und Marktchancen gibt es, die eigenen Fähigkeiten und Unternehmenswerte mit den Kundenwünschen zu vereinen? Dabei sprechen digitale Experten häufig davon, die richtige Rolle zu definieren und zu entwickeln. Sie betonen, dass nicht jeder eine Plattform betreiben und Orchestrator sein muss. Auch die Rollen als Partner – zum Beispiel der Finanzdienstleister oder als Produzent, der über die Plattform einen zusätzlichen digitalen Vertriebskanal erhält – bieten nachhaltige Unternehmensperspektiven. Das Wichtigste: aktiv am Geschehen teilzunehmen.

“Die notwendigen Kooperationen,
die für den Aufbau der Plattform relevant sind,
müssen definiert werden.”

Zusammenfassend kann die Entwicklung in drei strukturierten Phasen angegangen werden.

  • Um herauszufinden, was das für mein Unternehmen passende Zielmodell ist, sollten Entscheider im ersten Schritt – der Definitionsphase – beleuchten, wie sich Markt und Wertschöpfung verändern und dabei die eigenen Optionen evaluieren. Welche Positionierung im Umgang mit Plattformen passt zum Unternehmen? Welche Anpassungen von Geschäftsmodell und Services sind für die neuen Gegebenheiten erforderlich? Hierbei ist es essenziell, nicht nur die direkten Wettbewerber zu betrachten, sondern ebenso aufstrebende Start-ups sowie branchenfremde Unternehmen, die in den Markt drängen könnten. Die Kontrolle über die Kundenschnittstelle muss geprüft und mit Hilfe digitaler Services und Geschäftsmodelle abgesichert oder angegriffen werden. Und schlussendlich müssen die notwendigen Kooperationen, die für den Aufbau der Plattform relevant sind, definiert werden. Manche Elemente der digitalen Geschäftsmodelle sollten in Eigenregie aufgebaut werden, manche erfolgen besser in Partnerschaften.
  • In der folgenden Gestaltungsphase wird eine mögliche Plattform-Idee als Startpunkt gefunden, die dann iterativ weiterentwickelt und geschärft wird. Treffe ich mit der Idee wirklich ein Kundenbedürfnis und schaffe einen Mehrwert für beide Plattformseiten? Erst darauf folgt die Umsetzungsphase.

Breites Spektrum an Kundenbedürfnissen

Ein erfolgreiches Beispiel aus dem Markt ist auch Motum by Repairfix, eine Plattform für After-Sales-Services im Automobilbereich, die ein international führender Lackhersteller als neue Gesellschaft ausgegründet hat. Das Ziel: Höhere Auslastung der Werkstätten im Netzwerk des Chemiekonzerns und somit eine starke Kundenbindung sowie letztendlich eine Absatzsteigerung von Lack-Verkäufen an diese. Auch Motum by Repairfix startete mit einer einfachen App für die effiziente Abwicklung von Lackschäden zwischen Werkstätten und Autofahrern – und damit der Digitalisierung einer bestehenden analogen Kundenbeziehung.

Damit wirkt das Unternehmen proaktiv einem Verdrängungswettbewerb entgegen und ermöglicht gleichzeitig Upselling durch das Angebot zusätzlicher wertschöpfender Leistungen. Denn mit den digitalen Produkten vernetzt Repairfix heute alle wesentlichen Parteien im Automotive After-Sales-Markt und erleichtert so die Prozesse rund um die Schadens- und Service-Anforderungen auch für Flottenbetreiber und neue Mobilitätsanbieter.

Das Unternehmen hat dadurch neue Kundengruppen erschlossen. Es macht sich ebenfalls unabhängiger vom transaktionalen Verkauf von Chemikalien und rüstet sich mit einem unabhängigen Plattform-Geschäftsmodell im B2B-Bereich für die Zukunft. Nach und nach knüpfen so Plattform-Modelle mit ergänzenden Produkten branchenübergreifend ein Gesamt-(Öko)-System und können ein breites Spektrum von Kundenbedürfnissen befriedigen. Den weiteren Ausbau sowie das Zusammenspiel von Anbietern, Nachfragern und zusätzlichen Partnern optimieren die Plattformbetreiber.

Entschlossenheit ist wichtiger denn je

Der Blick auf die deutsche Unternehmenslandschaft zeigt, dass es bereits einige mutige Unternehmenslenker gibt. Sie zeigen, ein digitalisiertes Unternehmen ist in vielen Bereichen zukunftsfähig aufgestellt und damit auch stabiler in der Krise.

“Im B2B-Bereich gilt es nun,
auf die eigenen Stärken aufzubauen.”

In der Breite fehlt es jedoch an Entschlossenheit, um die Chancen, die Digitalisierung und insbesondere Plattformen bieten, zu nutzen. Diese Entschlossenheit ist allerdings nun wichtiger denn je. Während im B2C-Bereich die sogenannte erste Halbzeit bereits entschieden wurde und Branchenfremde, Start-ups sowie Tech-Konzerne aus dem Silicon Valley einzelne Branchen geradezu überrollt haben, gilt es im B2B-Bereich nun auf den eigenen Stärken aufzubauen. Hiesige Unternehmen kennen ihre Industrien wie kein anderer, besitzen ein gewachsenes Beziehungsnetzwerk innerhalb ihrer Wertschöpfungsketten, können ihre Reputation und vor allem ihre Kundenbasis nutzen – um die zweite Halbzeit zu gewinnen.

Den Übergang zu einem digital gesteuerten Geschäftsmodell zu schaffen, ist nicht nur wichtig, um sich vom Wettbewerb abzugrenzen, es ist überlebensnotwendig. Ob nun als Betreiber einer Plattform, die dem Unternehmen hilft, sich dichter am Endkunden zu positionieren, oder durch die partnerschaftliche Vernetzung im Ökosystem mit bestehenden Plattformen. Es gilt mit einer intelligenten Plattform- und Ökosystem-Strategie sowie einer mutigen Umsetzung, im Markt zu bestehen und weiter zu wachsen.

Auf einen Blick: Auf dem Weg zum Plattform-Unternehmen

1. Die absolute Grundvoraussetzung auf dem Weg zum Plattform-Player ist die Digitalisierung der bestehenden Kundenbeziehungen.

2. Eine Plattform- und damit eine Ökosystemstrategie ist Voraussetzung, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein. Jedoch: Nicht jeder muss eine Plattform betreiben, auf die richtige Positionierung im Ökosystem kommt es an. Auch Plattform-Partner oder Plattform-Supplier sind zukunftssichernde Rollen.

3. Das Rennen um B2B-Plattformen ist noch nicht entschieden. Will die deutsche Industrie ihre internationale Rolle verteidigen, ist jetzt die Zeit zu handeln.

4. Deutsche Unternehmen haben Wettbewerbsvorteile gegenüber großen Tech-Firmen: eine bestehende Kundenbasis, Industrie-Expertise, Netzwerk und Vertrauen.

5. Maximale Nutzerzentrierung unter Einbeziehung digitaler Geschäftsmodelle ist der Schlüssel zum Erfolg, um sich nachhaltig im globalen Wettbewerb aufzustellen.

6. Eine Plattform ist ein effektives Instrument, um die (überlebens-)wichtige digitale Kundenschnittstelle zu besetzen und ein kundenzentriertes Angebot zu entwickeln.


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Autor

Jochen Wilms ist Mitglied im Leadership Board, seit 2019 bei etventure und trägt die Gesamtverantwortung für die etventure-Salesstrategie.

Co-Autor

Christian Reichmann ist Mitglied im Leadership Board und seit 2015 bei etventure. Er verantwortet übergreifend Digital Projekte in verschiedenen Industrien. Schwerpunkte liegen u.a. im Aufbau digitaler Geschäftsmodelle und Digital Units sowie in den Bereichen Automotive und Banking.

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