Folgende Situation: Du willst gemeinsam mit deinem Partner gegen 19 Uhr beim Italiener essen. Würde man dieses Vorhaben an die Organisation industrialisierter Konzerne anpassen, sähe das Ganze etwa folgendermaßen aus: Du würdest nicht darauf vertrauen, dass dein Partner dem Großstadtdschungel gewachsen ist. Ganz im Gegenteil, du würdest alles akkurat vorweg planen und möglichst konkrete Anweisungen geben, damit auf jeden Fall alles gut geht. Beispielsweise so:
„Deine schwarze Hose, das weiße T-Shirt und deine Sneakers liegen für dich bereit. Beginne um 18.15 Uhr damit dich anzukleiden, um gegen 18.30 das Haus zu verlassen. Vergiss nicht die Haustür abzuschließen. Nimm die U5 Richtung Möllnau um 18:45 und fahre vier Stationen. Steige anschließend bitte in den 15er Bus um und fahre Richtung Zentrum. Auf der rechten Seite findest du das Restaurant. Der zweite Tisch von links, neben dem Fenster, ist für uns reserviert. Dann hast du dein Ziel erreicht.”
Das Prinzip der Prozesssteuerung
Im Alltag wäre diese Art von Mikromanagement unangebracht und würde garantiert zu Problemen mit unseren Mitmenschen führen. Normalerweise trauen wir unseren Mitmenschen durchaus zu selbstständig Probleme zu lösen und zu bewältigen. Selbst wenn eine Bahn ausfällt oder das Hemd noch in der Wäsche ist: Menschen finden Lösungen, die sie ans Ziel führen. Das gilt auch für die Planung von Urlaub, Haushalt oder Familienfesten. Absprachen funktionieren vor allem dann gut, wenn sie auf Augenhöhe passieren und klare Zielbilder kommuniziert werden. Es geht dabei nicht darum jemandem eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für den nächsten Winterurlaub zu diktieren. Normalerweise reicht es aus, wenn man vorschlägt gemeinsam Skifahren zu gehen.
Doch wie kommt es, dass so viele Menschen sich im professionellen Umfeld auf einmal ganz anders verhalten und ihren Kollegen oder Kolleginnen keine Selbstständigkeit mehr zutrauen? „Anweisen und Kontrollieren“ – eine Managementmethode, die auch heute in vielen Organisationsstrukturen immer noch Gang und Gebe ist und auf die erste industrielle Revolution zurückgeht.
Frederik Taylor verfasste damals das Prinzip der Prozesssteuerung: Dabei beschreibt er in seinem Werk „The principles of scientific management“, wie ein Unternehmen so effizient wie möglich funktioniert – durch die Trennung des Handelns vom Denken. Das Prinzip: Die Führungskraft entwirft die einzige, richtige Lösung und bittet ihre Mitarbeiter diese in kleinteiligen, sich wiederholenden Schritten umzusetzen. Dabei ist Verantwortung, Kreativität und Teamarbeit wenig zuträglich, wenn nicht sogar gänzlich unerwünscht.
Rollenwandel oder Bedeutungsverlust
Doch es kommt langsam zu einer Veränderung, die sich der Digitalisierung zuschreiben lässt. Wiederkehrende Aufgaben lassen sich automatisieren und Roboter werden vermehrt zu neuen „Kollegen“ am Fließband. Damit ändert sich allerdings auch der Anspruch an Führungskräfte und ihre Aufgaben. Und ganz gleich welche Branche, es wird jede betreffen, in unterschiedlicher Geschwindigkeit, in jeder Organisationsstruktur.
Erst kürzlich veröffentlichte der Senior Researcher Kai Gondlach von 2b AHEAD eine neue Trendstudie über die Zukunft der Krankenversicherung. Seine Erkenntnis: „Die Branche steht kurz vor einem grundlegenden Innovationsschub. Die eindeutige Botschaft lautet: Rollenwandel oder Bedeutungsverlust für die Akteure.“
Wie gestaltet sich also dieser Rollenwandel in der Organisationsstruktur? Unternehmen sollten sich nicht der Illusion hingeben, dass es einfach nur die richtige Methode bräuchte, die für jede Organisationsform passt. Welche Möglichkeiten gibt es nun für Unternehmen, um dem Innovationsschub zu begegnen? Zunächst sollte geklärt werden, welche Bereiche mit welcher Motivation angepasst werden sollen und um welche konkreten Ziele es geht.
Drei Einflussbereiche in der Organisationsstruktur
Für alle Entscheidungen gibt es drei Einflussbereiche in der Organisationsstruktur: die Organisationsebene, die Teamebene und die Mitarbeiterebene. Doch wo sollen Veränderungen nun beginnen? Die drei Ebenen sind eng aneinandergekoppelt und verschiedene Maßnahmen betreffen somit auch andere Bereiche. Im besten Fall gehen die Maßnahmen Hand in Hand.
Grundsätzlich geht es auf der Organisationsebene um strukturelle Veränderungen, die vor allem durch die Zusammenarbeit mit Betriebsräten, der Personalabteilung, den Verantwortlichen für die Infrastruktur und der Rechtsabteilung resultieren.
Alle Führungsfragen und Fragen zu der digitalen Kollaboration ergeben sich auf der Teamebene. Es geht darum herauszufinden, wie Teams sinnvoll gebildet und befähigt werden, um effektiv auf neue Herausforderungen zu reagieren.
Wie wird sich das Arbeiten verändern, wenn immer mehr Mitarbeiter Teilzeitmodelle bevorzugen, im Home-Office arbeiten möchten oder aufgrund von ständig neuen Anforderungen mehr oder andere Weiterbildungsmöglichkeiten benötigen? Diese und andere individuelle Anforderungen spielen auf der Mitarbeiterebene eine wichtige Rolle.
Was braucht die Organisation in Zukunft
Der digitale Wandel und die komplexen Kundenbedürfnisse zeigen, dass es deutlich schwieriger ist, sich an den veränderten Markt anzupassen, anstatt am Abend eine Pizza essen zu gehen. Eine Führungskraft sollte somit nicht mehr auf jedes Problem selbst die Antwort finden, geschweige denn diese den Mitarbeitern vorbeten und detaillierte Anleitungen zur Problemlösung erstellen. Es braucht zu viele Fähigkeiten und Antworten, als dass eine einzige Person diese liefern kann.
Was genau benötigt es also, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig und agil zu sein? Um nicht von der agilen Konkurrenz überrannt zu werden, erfordert es crossfunktionale Teams und einen Führungsstil, der eher mit der Formulierung von Zielbildern agiert als mit detaillierten Prozessbeschreibungen. Da zukünftig sowieso viele Arbeitsabläufe automatisiert werden, ist die einfache Ablaufbeschreibung keine gute Methode mehr. Auf jeden Mitarbeiter kommen in Zukunft Herausforderungen zu, für die es noch keine maßgeschneiderte Lösung gibt.
Laut dem Bildungsexperten Dr. Tony Wagner, werden zukünftig sieben kritische Fähigkeiten an die Mitarbeiter gestellt werden, die den Unternehmenserfolg beeinflussen: Problemlösungskompetenz, kritisches Denken, Zusammenarbeit in Netzwerken, Anpassungsfähigkeit, Neugier, effektive Kommunikation und Agilität.
Damit Mitarbeiter diese Fähigkeiten einbringen und weiterentwickeln können, helfen neue Methoden und Frameworks. Somit können bestmögliche Rahmenbedingungen in der Organisationsstruktur geschaffen werden.
Objectives und Key Results
Eine Möglichkeit, diesen Anforderungen zu begegnen, ist die Anwendung von Objectives und Key Results. Dabei handelt es sich um ein Management-Framework, welches insbesondere auf die Nutzung der oben genannten Fähigkeiten abzielt.
Sogenannte „OKRs“ wurden bereits in den 1980er Jahren von Andy Grove entwickelt und erfolgreich bei Intel eingesetzt. Bis heute hat sich diese Methode insbesondere in großen Tech-Unternehmen wie Microsoft und Goole etabliert, findet aber zunehmend auch in Unternehmen aus anderen Branchen Anklang und verändert die Organisationsstruktur. Dabei richten sich crossfunktionale Teams anhand der Unternehmensstrategie auf ein gemeinsames Ziel aus und definieren in einem strukturierten Prozess gemeinsame Zielbilder für einen vordefinierten Zeitraum. Gemeinsam mit den Führungskräften entsteht somit eine ganz konkrete Erwartungshaltung. Die Verantwortung für die Ausgestaltung der damit verbundenen Aufgaben und Maßnahmen verbleibt aber explizit beim jeweiligen Team.
Ein Zielbild entsteht aus zwei Komponenten, die eine einheitliche Kommunikations- und Bewertungsgrundlage gewährleisten sollen. Dabei handelt es sich um Objectives und Key Results:
Objectives
Ein Objective soll die allgemeine Richtung innerhalb eines aktuellen Zyklus vorgeben und dient als qualitatives Ziel. Es muss nicht quantifizierbar sein, sondern ein gemeinsames Verständnis dafür zu schaffen, worauf der Fokus liegt. Es soll die einfache Antwort auf die Frage liefern: “Was möchten wir gemeinsam erreichen?” Die Antwort sollte auf die Wertschöpfung abzielen. Beispielsweise: “Wir wollen die Zufriedenheit unserer Bestandskunden erhöhen.”
Key Results
Verschiedene Key Results sollen angeben, wie man dem Objective näherkommt oder es sogar erreicht hat. Hier ist die Quantifizierbarkeit wichtig, damit am Ende eines OKR-Zyklus überprüft werden kann, zu welchem Grad das Zielbild erreicht wurde. Es reicht nicht festzulegen, dass man glücklichere Kunden haben möchte. Man muss ganz genau formulieren, worüber die Kunden glücklicher sein sollen und wie man herausfindet, ob sie es tatsächlich sind.
Im Gegensatz zu anderen Management-Frameworks liegt der Fokus bei den Key Results nicht auf der Aktivität, sondern auf dem messbaren Ergebnis. Ein gutes Key Result wäre nicht die Vorgabe: “Wir rufen 10 Kunden an, um herauszufinden, ob sie unseren Service mögen.” Stattdessen beschäftigt man sich sehr genau damit, welches konkrete Ergebnis eigentlich erzielt werden soll: “Wir haben von 10 Kunden die schriftliche Rückmeldung, dass sie unseren Service weiterempfehlen würden.” Dem Team ist somit offen gestellt, wie es das Ergebnis erreicht und kann sich selbst für einen Weg entscheiden. Das bietet dem Team mehr Freiheit in der Arbeit und verändert ihre Organisationsstruktur. Dem Team bleibt also selbst überlassen, wie genau die Messmethodik aussieht, welche Kunden angesprochen werden und ob zum Beispiel Änderungen am Service vorgenommen werden müssen, um die positive Rückmeldung von 10 Kunden zu erhalten. OKRs ermöglichen somit ein ergebnisorientiertes Arbeiten in crossfunktionalen Teams, anhand nur weniger, temporärer Zielbilder.
Sobald Sie also das nächste Mal in Ihrer Organisation mit komplexen Problemen konfrontiert werden, für die es keinen vorgeschriebenen Lösungsweg gibt, dann denken Sie daran, dass Teams in der Lage sind, komplexe Aufgaben zu bewältigen, wenn sie das konkrete Ziel kennen und mitbestimmt haben. Im privaten Umfeld schaffen Menschen das intuitiv. Sonst wären zahlreiche Restaurants bereits pleite gegangen.