Radikale Ehrlichkeit – ein Gegenentwurf zu Populismus und Fake News
29. August 2019
Wir leben im Zeitalter von Fake News, einer unsicheren Wirklichkeit, anonymisierte Hate-Aktionen oder beeinflussten Wahlen auf Social Media. Tristan Horx, Trendforscher in der Zukunftsforscher-Familie Horx und wie sein Vater Mathias Horx im bekannten Zunkunftsinstitut aktiv, hat den Gegentrend ausgerufen. Ein Gespräch über Ehrlichkeit, Lüge und Beziehung.
Tristan, du beschäftigst dich schon seit einer Weile mit radikaler Ehrlichkeit. Wie bist du zu dem Thema gekommen?
Vor einiger Zeit entschied ich mich dazu, den sozialen Netzwerken den Rücken zu kehren, aus meinem Gefühl heraus, dass etwas in der menschlichen Kommunikation fehlte. Doch irgendwie war die Annahme zu einfach, die Klärung der Verbindungsfragen zwischen den Menschen, würde zu geklärten Beziehungsfragen führen. Kommunikation bedeutet Arbeit und diese lässt sich aber dennoch nicht durch Algorithmen erledigen. Radikale Ehrlichkeit ist ein etwas älteres, psychologisches Tool.
Das klingt spannend – wann hast du es selbst zum ersten Mal genutzt?
Zunächst war ich bei einem Workshop zu dem Thema und der Leiter beginnt seine Workshops mit radikal ehrlichen Aussagen. Beispielsweise hat er mal einer Spiegel Journalistin gesagt: “Ich würde wirklich sehr gerne mit dir schlafen.“ So lässt sich natürlich auch die Hemmschwelle drastisch senken. Natürlich rate ich jetzt nicht jedem dauernd die Wahrheit zu sagen, aber man sollte das ruhig mal langsam ausprobieren, um zu schauen, wann es sich lohnt die Wahrheit zu sagen und wann nicht.
Wie sieht es mit unserer Ehrlichkeit im Alltag aus?
Wir lügen etwa 150- bis 200-mal am Tag. Natürlich nicht immer mit der Absicht jemanden vorsätzlich und böswillig zu täuschen, teilweise sind es auch die sogenannten Notlügen. Lügen haben verschiedene Grade, Schattierungen. Ironie, Übertreibungen und Zynismus sind alles Ausformungen, die wir gar nicht mehr als direkte Lüge einordnen. Übertriebene Nettigkeit ist eine Verzerrung der Wahrheit.Dem Partner einmal sagen, was man wirklich denkt, passiert meistens nur in einem ernsten Beziehungsstreit.
Das Gegenrezept heißt nun radikale Ehrlichkeit…
Genau. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht dabei nicht primär um das Beleidigen seines Umfelds und den damit verbundenen Schockeffekt. Eine Aussage wie „Oh, du hast aber zugenommen. Das sieht nicht gut aus!“ fällt definitiv in die Kategorie des unnötigen Gemeinseins. Aber in Zeiten von Trump und Co. stehen Wahrheit und Ehrlichkeit dermaßen unter Beschuss, dass nur eine starke Konteroffensive etwas bewirken kann.
Wie durchbrechen wir die Lügendynamik?
Wenn wir bewusster wahrnehmen und direkter benennen, was uns innerlich bewegt, könnten wir auch unseren Gefühlen auf die Spur kommen und sie dem anderen mitteilen. Ich reagiere wütend, traurig, grantig, genervt auf einen Reiz, aber statt sich diesen Prozess ehrlich einzugestehen und zu kommunizieren, verstecken wir uns hinter abwertenden Floskeln. Was aber essentiell wichtig ist zu verstehen: Das Prinzip der radikalen Ehrlichkeit ist mit der Realität des Lebens vereinbar und anwendbar! Man kann Seminare besuchen, es reicht aber oft schon, ein paar Mal das Unbehagen der radikalen Ehrlichkeit zu erleben, um einen neuen Umgang mit der Wahrheit und Kommunikation zu finden.
Aber geht mit der radikalen Ehrlichkeit nicht jegliche Form von Beziehung zugrunde?
Nur wenn die Beziehung ohnehin am Ende ist. Und dann wäre jeder Aufschub sowieso Zeitverschwendung. Wir sollten aber nicht immer an die negativen Konsequenzen denken, denn radikale Ehrlichkeit bedeutet auch, die positiven Gefühle direkt rauszulassen. Die Wahrheitszensur unserer Zeit hat beide Enden des Gefühlsspektrums als zu emotional erklärt.
Was bedeutet das Prinzip, wenn wir es auf eine Unternehmenskultur anwenden?
Auch dort: Es ist doch viel produktiver, wenn wir uns ehrlich sagen, dass etwas unbrauchbar ist oder wir es in einer anderen Form benötigt hätten. So hätten beide etwas davon. Der Mitarbeiter weiß, wie er es anders besser machen kann und der Chef gewinnt wertvolle Zeit. Aus Fehlern kann man lernen, wenn man sie als solche versteht. Wir begnügen uns aber mit inhaltsleeren Floskeln, um dann schnell zur nächsten Aufgabe zu wechseln. Ich bin überzeugt, dass das Unternehmen im Gesamten und jeder Mitarbeiter im Einzelnen – mit einer guten Dosis Ehrlichkeit besser werden.
Klingt gut, aber idealistisch! Der Wirtschaftswoche war das Thema erst kürzlich eine Titelstory „Führen durch Flunkern“ wert mit der Kernaussage: „Wer nie lügt, schadet sich selbst, seinen Kollegen – und seiner Karriere“ – was ist dem entgegenzuhalten?
Es ist illusionär, zu denken, dass man immer ehrlich sein kann. Dazu sind die emotionalen und sozialen Kosten tatsächlich zu hoch. Man muss aber auch nicht immer den Weg des geringsten Widerstands gehen. Dort, wo es auf Wahrheit ankommt, in unseren engsten Beziehungen, ist die radikale Ehrlichkeit enorm wirksam. Und durch die Verbesserung unserer individuellen Beziehungen können wir auch unsere Beziehung zur Gesellschaft retten. Radikale Ehrlichkeit ist die positive, kuratierte Gegenbewegung zum opportunistischen, zynischen Populismus. Ein Gegenentwurf zu pauschalisierenden Parolen, Fake News und Hetze. Glückliche Gesellschaften bestehen aus beziehungsfähigen Menschen. Und Beziehung kann nur entstehen, wenn man Illusionen, Lügen und quälende Gefühle durchleben und damit auch loslassen kann.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person:
Tristan Horx ist mit der Trendforschung in der Zukunftsforscher-Familie Horx aufgewachsen. Er betreibt Zukunftsforschung aus Sicht der Jugend und kombiniert dabei Sozial- und Kulturanthropologie mit seinen Erfahrungen in einer immer komplexer werdenden Welt. Digitalisierung, Lifestyle, Globalisierung und Generationenwandel sind in seinen Vorträgen ebenso Thema wie seine größte Leidenschaft: Die Zukunft von Politik und Medien.
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