Die einst so erfolgreiche deutsche Automobilindustrie muss in Sachen Elektromobilität endlich in den Turbogang schalten und das Überholmanöver antreten. Dafür gilt es, Mut beweisen – und von dem US-amerikanischen Autobauer Tesla lernen.
Dieser Beitrag ist zunächst im changement! Magazin (Handelsblatt Fachverlag, Februar 2021) in der Ausgabe „Weitsicht für den Wandel” erschienen.
Das Unternehmen Apple will 2024 ein Auto auf dem Markt bringen“ – damit sorgte das Unternehmen aus Kalifornien noch kurz vor Weihnachten 2020 für Schlagzeilen. Seit Jahren wird immer wieder spekuliert. Es heißt, Apple arbeite mit seinem Projekt „Titan“ am Eintritt in den Markt für autonom fahrende Elektroautos. Nun steht der Ter- min für den Produktionsstart offenbar fest: 2024 soll es losgehen. Im Zentrum steht, so berichteten es die Nachrichtenagenturen, eine völlig neuartige Batterie.
Nachdem die etablierten Hersteller hierzulande in der Elektromobilität bereits dem kalifornischen Pionier Tesla hinterherlaufen müssen, könnte nun ein weiterer Spieler beim Zukunftsthema Autonomes Fahren mit besonderer Expertise in den Markt drängen.
Die volle Wucht der Disruption
Damit sorgte zum Ende des Jahres 2020 zwar ein anderes kalifornisches Unternehmen als Tesla für die Schlagzeilen der Automobilbranche, aber ins- gesamt war es wahrscheinlich das bislang erfolg- reichste Jahr für den Elektropionier. Und natürlich sind neben Tesla auch noch weitere, derzeit noch eher unbekanntere Disruptoren auf dem Spielfeld: Berichten zufolge soll bald ein chinesischer Elektrowagen zum Preis von circa 8.000 Euro nach Europa kommen.
„Das Fahrzeug selbst steht nicht mehr im Zentrum.“
Für die Automobilwirtschaft beginnt eine neue Zeitrechnung. Nicht wegen dieser Schlagzeilen, sondern weil sich gerade alles ändert – nicht nur die Antriebs-Technik und Infrastruktur, auch Kundengewohnheiten und Nutzungsbedürfnisse. Was aus Nachrichten, wie der oberen spricht, ist: Das Fahrzeug selbst steht nicht mehr im Zentrum. Das Auto wandelt sich zu einem durch Software definierten Produkt. Und weil der Traditionalist wahrscheinlich jetzt das Magazin zuklappen wird und vor sich hin murmelt, das sei doch alles Quatsch, dem sei von mir noch hinterhergerufen, dass 2020 bezogen auf den Absatz von Neufahrzeugen das in Deutschland schlechteste Autojahr seit 30 Jahren war.
So bekommt die deutsche Automobilindustrie gerade mit voller Wucht die Disruption zu spüren. Und während die deutschen Automobilkonzerne mit der Corona-Krise und einer reduzierten Kaufnachfrage kämpfen, beschleunigt Elon Musk. Er will den Kampf um die Elektromobilität um jeden Preis gewinnen.
Ein erfolgreiches Ökosystem
Wenn der Bedarf an Elektromobilität weiter so rasant ansteigt wie prognostiziert, dann muss die einst so erfolgreiche deutsche Automobilindustrie in den Turbogang schalten und endlich das Überholmanöver antreten und vor allen Dingen ihr Mindset ändern. Dabei sollte sie den Vorsprung des aktuellen Elektro-Branchenprimus Tesla anerkennen, von diesem lernen und das berühmte „Spaltmaß-Geprotze“ ablegen.
„In kürzester Zeit hat Tesla es geschafft, ein erfolgreiches Ökosystem aufzubauen.“
Während sich die deutsche Automobilindustrie schrittweise und sehr langsam auf die Veränderung einstellt, ist Tesla schon mittendrin und hat sich durch die jahrelange, konkurrenzlose Vorlaufzeit die beste Position erarbeitet. In Grünheide nahe Berlin soll in weniger als zwölf Monaten die erste Gigafactory in Deutschland entstehen, wo zukünftig zunächst 500.000 Autos pro Jahr produziert werden sollen. Die größte Batteriefabrik Europas soll folgen. Damit steigt Tesla auch ganz massiv in den „War for Talent“ hierzulande ein. Doch was genau macht Tesla nun so wertvoll? In welchen Bereichen ist der Hersteller so viel besser und fortschrittlicher aufgestellt als die deutsche Konkurrenz?
Während sich die Autokonzerne in den vergangenen Jahrzehnten zu perfekten Systemintegratoren entwickelten, die ihre Technik fast komplett von Zulieferern einkaufen, geht Elon Musk den entgegengesetzten Weg. Ob Software, Chip, Batterien, Platinen, Leistungselektronik – alles, was die Elektroautos der Zukunft definiert, entwickelt Tesla selbst. So schaffte es das Unternehmen, sich in kürzester Zeit ein erfolgreiches Ökosystem aufzubauen. Vom heimischen Energiespeicher bis zum Ladesäulennetz – alles stammt aus dem Tesla-Kosmos. Und dabei macht der Autobauer sich immer unabhängiger: 2019 hat das Unternehmen den Batteriespezialisten Maxwell gekauft, um eine neue Zellgeneration entwickeln zu können. Während bei einem Tesla nur noch bis zu 40 Prozent der Teile von Zulieferern kommen, ist der Anteil bei anderen Herstellern fast doppelt so hoch.
Tesla beherrscht Nutzerzentrierung
Tesla beherrscht das Prinzip der Nutzerzentrierung wie kaum ein anderes Unternehmen: keine starke Marke, sondern schnelle Verfügbarkeiten, ein gutes und sicheres Fahrgefühl sowie eine hohe Usability. Musks Motto: Bevor Kundinnen und Kunden erkennen, was fehlt, muss es bereits integriert sein. Und Musk hinterfragt alles, was der Rest der Branche für selbstverständlich hält. Daher kommen lange Entwicklungszyklen wie in der Automobilindustrie üblich bei Tesla schlichtweg nicht vor.
Sobald es bei Tesla Neuerungen gibt, werden sie verbaut, sobald die Software fertig ist, ist ein Update verfügbar. Dieses Aufspielen neuer Fähigkeiten per Software-Update stellt einen enormen USP dar, den kein deutscher Hersteller bisher bieten kann. Ein Software-Update kann zum Beispiel eine Netflix-Integration bringen, aber auch die Reichweite um fünf Prozent erhöhen. Auch wurden schon nachträglich zwei Kamerafunktionen ergänzt, mit denen der tote Winkel besser angezeigt wird. Die Updates betreffen also nicht nur das Entertainment- und Navigationssystem, sondern auch den Autopiloten und viele weitere Komponenten des Fahrzeuges, wie die Bremsleistung oder die Beschleunigung. Diese Updates lassen sich mit einfachen Klicks selbst durchführen, ohne eine Werkstatt aufsuchen zu müssen. Auch werden so ältere Modelle nicht nur sicherer und leistungsfähiger, sie erfahren zudem eine Wertsteigerung – ein Service, den deutsche Automobilhersteller nicht kennen. Zudem nutzt Tesla im Unterschied zu deutschen Herstellern ein offenes System, das auch die Integration anderer Apps ermöglicht – was die gesamte Bedienung enorm einfach, schnell und nutzerfreundlich macht. So ist beispielsweise Google Maps installiert und zeigt aktuelle Stauwarnungen direkt an.
Während sich die Tesla-Systeme ständig aktualisieren und weiterentwickeln, herrscht in der deutschen Automobilindustrie noch immer ein drei- bis vierjähriger Entwicklungszyklus. Mit dem Ergebnis, dass das „neue“ Modell oftmals nicht mehr das ist, was am Markt gebraucht wird – ein komplett falscher Ansatz.
Vorsprung bei der Ladeinfrastruktur
Auch beim Aufbau des Schnellladenetzes ist Tesla der Konkurrenz davongefahren. Elon Musk ist kein Mann, der lange wartet – er macht. Statt auf Zulieferer zu setzen, hat er die notwendige Ladeinfrastruktur einfach selbst geschaffen.
Ich bin nach wie vor schwer beeindruckt von der europaweiten Tesla-Ladeinfrastruktur, die es ermöglicht, in zehn Minuten Ladezeit ca. hundert Kilometer Reichweite in den Akku zu pumpen. Von Lissabon bis hoch nach Skandinavien können Tesla-Fahrer so bequem und schnell fahren. Andere E-Autos hingegen können dort nicht laden, denn Tesla betreibt mit seinen Superchargern ein eigenes proprietäres Schnellladesystem. Und während Tesla allein bereits im vergangenen Sommer 525 Stationen hat, erreichte ein Joint Venture aus Daimler, BMW, VW und Ford Ende vergangenen Jahres etwa 300 Stationen.
„Essenziell für die Zukunft sind neben der radikalen Nutzerzentrierung ein Ökosystem, Kooperationen sowie eine offene Plattform in und um die Fahrzeuge.“
Tesla bereitet sich auf die Zukunft des autonomen Fahrens vor und ist auch hier anderen Herstellern einen großen Schritt voraus. Seit 2019 baut der Autohersteller Chips für autonomes Fahren in die Autos ein. Der Clou: Die Fahrzeuge werden so zu fahrenden Datensammlern. Egal ob ein Fahrzeug nun den Autopiloten aktiviert hat oder nicht – der sogenannte Shadow Mode berechnet die Fahrsituationen, sieht Reaktionen der anderen Verkehrsteilnehmer voraus, vergleicht sie mit anderen Verläufen und lernt daraus. Das System wird so besser und besser.
Der größte Vorteil: Tesla besitzt alle Kunden- und Bewegungsdaten und hat so den direkten Zu- gang zu Kunden und Fahrern. Die deutschen Automobilhersteller hingegen verfügen teilweise noch nicht mal über ihre Kundendaten, weil diese bei den dezentralen Autohändlern liegen. Tesla kann also nicht nur in kürzester Zeit sein Geschäftsmodell erweitern, sondern die Disruption noch in weiteren Branchen wie beispielsweise dem Mietwagenverleih forcieren.
Wenn ich mir dann hierzulande die Aktivitäten der großen „Original Equipment Manufacturers“ (OEMs) hinsichtlich digitaler Geschäftsmodelle anschaue, wird mir eher angst und bange. Ende 2020 verkaufte Daimler ihre Ideenschmiede Lab 1886 an einen Investor und trennt sich somit von dem eigenen Ideencampus, auf dem der Konzern innovative Geschäftsmodelle außerhalb der klassischen Automobilproduktion entwickelte und testete.
800 Kilometer Reichweite und mehr
Selbst wenn der bzw. die Durchschnittsdeutsche nicht einmal hundert Kilometer pro Tag zurücklegt, wünschen sich viele die größtmögliche Reichweite. Vor nichts scheinen die Deutschen beim Kauf eines Elektrowagens mehr Angst zu haben als vor einer zu geringen Reichweite. Und genau hier schlägt Tesla bisher alle und bleibt Spitzenreiter. Das Unternehmen hat es geschafft, seine Fahrzeuge mit möglichst großer Reichweite und einer gut ausgebauten Infrastruktur an die Spitze der Tabelle zu bringen.
Das Tesla Model S zum Beispiel kommt auf eine Reichweite von sage und schreibe 630 Kilometern – die nächste Generation, die nun 2021 erscheinen wird, soll auf 800 Kilometer und mehr Reichweite kommen. In Sachen Akku-Technik ist Tesla der deutschen Automobilindustrie Lichtjahre voraus. Apropos Reichweite, ich bin von Tirol an die italienische Küste gefahren. Für die 350 Kilometer hatte ich eine Reichweite von 450 Kilometern in meinem Akku.
„Herbert Diess will die Transformation zu einem Technologieanbieter nach dem Vorbild des US-Elektroautobauers Tesla beschleunigen.“
An der Küste angekommen hatte ich dennoch 170 Kilometer Reichweite übrig, denn die Motorbremse auf der Bergstrecke lud den Akku regenerativ wieder auf. Deutschland leistet sich noch die Mentalität von Weltmarktführern. Mit dieser werden sie ihre führende Weltmarktposition aber nicht halten können.
Es braucht eine „Weltmutführer“-Mentalität
Was es nun braucht, sind „Weltmutführer“. Kommt die deutsche Autoindustrie nicht aus ihrer Saturiertheit heraus, wird sie den Anschluss verlieren. Sie darf sich nicht in viele Jahre dauernden Entwicklungszyklen verlieren, sondern muss jetzt umdenken und verstehen, dass es nicht mehr nur rein um das Bauen von Fahrzeugen geht. Sie muss deutlich schneller werden, ihr Mindset ändern und vor allem ihre Prozesse schrittweise vorantreiben. Essenziell für die Zukunft sind neben der radikalen Nutzerzentrierung ein Ökosystem, Kooperationen sowie eine offene Plattform in und um die Fahrzeuge. Nur so wird der deutschen Autoindustrie die Wende in die neue Ära der Mobilität gelingen.
Um mit einem Lichtblick zu enden: VW, allen voran CEO Herbert Diess, scheint verstanden zu haben, wo die Herausforderungen der Zukunft liegen. Hatte Ende des vergangenen Jahres noch ein interner Machtkampf die Wende erschwert, erhielt Diess nun Rückendeckung für seinen Zukunftsplan und die Transformation.
Seine Kernbotschaft: Volkswagen ist elektrisch oder gar nicht. Diess will die Transformation zu einem Technologieanbieter nach dem Vorbild des US-Elektroautobauers Tesla beschleunigen.
In einem viel beachteten Beitrag im Netzwerk LinkedIn schrieb er, diesen „Tanker erfolgreich in die Zukunft zu bringen, ist die größte Herausforderung meiner Karriere“. Es gehe darum, den Riesenkonzern mit all seinen Stakeholdern und trotz der heutigen Erfolge zum Umdenken zu bewegen und neue Fähigkeiten anzustreben. Viele Strukturen seien „verkrustet und kompliziert“; es gebe „unterschiedlichste Interessen und politische Agenden im Konzern“. Das mache das „ohnehin schon große Projekt noch aufwendiger und komplexer“.
VW müsse so wie Tesla das „Automobil als das komplexeste, wertvollste und massentauglichste Internet-Device“ betrachten. Das dies jetzt das Ziel sein muss, ist mittlerweile in den meisten Chefetagen wohl „Common Sense“. Eine der schwierigsten Aufgaben wird jetzt die konkrete Umsetzung sein sowie gleichzeitig, die Mitarbeitenden bei diesem Umbau und Kulturwandel mitzunehmen und von der Notwendigkeit zu radikalen Änderungen zu überzeugen.
Ich wünsche Diess und VW stellvertretend für die gesamte deutsche Automobilwirtschaft allen erdenklichen Erfolg, denn entgegen aller Faszination für Tesla und ihrem Geschäftsmodell bin ich im Herzen Europäer und wünsche mir, dass die hier ansässigen Unternehmen auch in Zukunft zu den wertvollsten dieser Welt zählen. Dafür müssen wir zu „Weltmutführern“ werden.