User Empathy: Warum Nicht-Kunden die besseren Gesprächspartner sind
17. Dezember 2018
User Empathy ist ein zentrales Konzept von Innovationsmethoden wie Design Thinking und Lean Startup. Die Idee dahinter: Unternehmen beziehen ihre Kunden in den Innovationsprozess mit ein, damit sie reale Probleme, Bedürfnisse und veränderte Bedingungen besser erkennen und darauf reagieren können.
User Empathy kritisch betrachtet
Und dennoch wird die Zusammenarbeit mit Nutzern auch kritisch betrachtet – insbesondere wenn es um disruptive Innovationen geht, die ganze Branchen und etablierte Geschäftsmodelle durcheinanderbringen können. Denn oft versäumen es die etablierten Unternehmen, die nächste Innovationswelle in ihren jeweiligen Branchen zu nutzen, weil sie sich vor allem aus finanziellen Gründen an ihren bestehenden Kunden orientieren – und die fordern eben genau die Produkte, die sie ohnehin schon nutzen.
Außerdem machen viele Unternehmen einen entscheidenden Fehler: Sie hören ihren Kunden nicht richtig zu. Statt realistische Einblicke in deren Gefühlslage zu gewinnen, erhoffen sie sich konkrete Lösungen. Gerade deshalb plädieren wir aus der Erfahrung heraus für eine Erweiterung des User Empathy-Konzepts: Unternehmen sollten ihre Komfortzone verlassen und nicht nur mit ihren aktuellen Kunden sprechen, sondern auch mit denjenigen, die es noch werden könnten.
Disruption durch Innovation
Clayton Christensen zeigte mit seinem Innovator’s Dilemma, dass etablierte Unternehmen von kleinen, neuen Startups bedroht werden, die die Flexibilität haben, Kunden in den Rand- und Nischenbereichen des Marktes anzusprechen. Sie versuchen, Probleme abseits des Mainstream-Marktes zu lösen oder ein Problem, das bereits als gelöst gilt, auf eine andere Art zu lösen.
Etablierte Unternehmen neigen dazu, diese Chancen zu übersehen, weil sie stets nach höherer Profitabilität streben und das anfängliche Wachstumspotenzial von Nischenlösungen als gering einstufen. Startups versuchen, genau diese Nischen zu füllen. Sie bieten innerhalb kürzester Zeit passendere Funktionen an und bedienen mit ihrem Angebot nach und nach auch den Mainstream-Markt der etablierten Unternehmen. In diesem Moment sprechen wir von Disruption.
Das bedeutet keineswegs, dass etablierte Unternehmen ihren bestehenden Kundenstamm vernachlässigen sollten – im Gegenteil. Sie müssen beides gleichzeitig tun: die Beziehungen zu ihren Stammkunden stärken und disruptive Chancen außerhalb ihres Kernmarktes nutzen.
Pfad des geringsten Widerstandes
User Empathy eignet sich optimal für Projekte und Initiativen, die auf Innovation abzielen. Bevor Unternehmen das Konzept für sich anwenden, sollten sie sich aber bewusst sein, dass die Meinungen der Kunden und Nicht-Kunden verzerrt sein könnten. Die Kreativitätsforschung und die Erkenntnisse zu kognitiven Verzerrungen zeigen uns, dass vollkommen informierte und erfahrene Menschen nur selten diejenigen sind, die den Status quo radikal verändern können.
Der Psychologe Tom Ward prägte den Begriff des geringsten Widerstands. Demnach tendieren Menschen dazu, bekannte Strukturen als Ausgangspunkt für Problemlösungen zu nutzen, sobald ein auftretendes Problem einer in unserem Gedächtnis verankerten Kategorie ähnlich ist. Ward und seine Kollegen baten Probanden, Außerirdische zu zeichnen. Die meisten begannen ganz unbewusst mit einem vertrauten Tier und modifizierten es dann, um ein außergewöhnlicheres Bild zu kreieren. So ähnelten fast alle Zeichnungen irdischen Tieren und wiesen Eigenschaften wie Symmetrie, Augen oder Beine auf.
Wir neigen also zu Ableitungen aus früheren Erfahrungen, weil wir mit geringem kognitiven Aufwand ein möglichst gutes Ergebnis erzielen möchten. In unserem Alltag ist diese intuitive Art der Problemlösung ein Lebensretter, weil wir Routinen wie etwa das Zähneputzen nicht täglich neu erfinden wollen. Wenn es aber um Innovationen geht, kann es es ein Hindernis sein, auf Bekanntem zu beharren.
User sind bequem und beeinflussbar
Wie alle Menschen sind auch User bequem und lassen sich gerne von ihren Erfahrungen beeinflussen. Sie wählen im Zweifel immer den Pfad des geringsten Widerstandes. Das zeigt auch ein Experiment mit Nutzern und potenziellen Nutzern von Musik-Apps auf mobilen Geräten. Beide Gruppen wurden mit der Aufgabe konfrontiert, sich radikal neue Produkte oder Dienstleistungen innerhalb dieses Bereichs vorzustellen.
Tatsächliche Nutzer verbrachten nur wenig Zeit damit, ein zu lösendes Problem zu definieren und entwickelten eine große Anzahl klar definierter Ideen, die meist von den Funktionalitäten aktueller Musikanwendungen beeinflusst waren. Nicht-Nutzer hingegen verbrachten bewusst Zeit damit, ein sinnvolles, alltägliches Problem zu definieren, bevor sie an Lösungen dachten. Ihre Beiträge und Lösungen waren weniger umfangreich, weniger gut definiert und fokussierten stark auf Emotionen, den Kontext der Anwendung und soziale und kulturelle Werte. Einige Ideen hatten nur wenig mit Musik zu tun.
Dieses Ergebnis ist eng mit dem Konzept des Abstraktionsgrades verbunden. Während die Probanden ein Problem durch Abstraktion neu formulieren, erweitern sie ihre Perspektive und können neuartige Wege einschlagen. Die Erkenntnisse der Nutzer führten zwar zu handlungsfähigeren Ideen (Problemlösungskreativität), die Erkenntnisse der Nicht-Nutzer hatten aber das Potenzial, Probleme zu identifizieren, die in anderen Kontexten verwurzelt sind.
Kognitive Dissonanz
Eine weitere Verzerrung ergibt sich aus unserem Drang nach interner Konsistenz, der in Konsistenztheorien beschrieben wird. Wir sind auf der Suche nach Konsistenz zwischen unseren Ansichten und Verhaltensweisen. Kognitive Dissonanzen treten auf, wenn unser Verhalten im Widerspruch zu unseren Ansichten steht, ohne dass wir für dieses Verhalten eine externe Rechtfertigung (z.B. eine Belohnung) erhalten. Oft versuchen wir unbewusst, diese Dissonanz zu reduzieren.
Experimente zeigen, dass tatsächliche Nutzer ein Produkt oder eine Dienstleistung in der Regel nutzen, um einen bestehenden Bedarf zu decken und ein Problem zu lösen. Daher haben sie tendenziell wenig oder gar kein Interesse daran, an den etablierten Designs etwas zu ändern oder auf Leistungen zu verzichten. Im Gegenteil – sie wollen den Mehrwert maximieren. Es erfordert also einen Perspektivenwechsel und eine Verhaltensänderung der derzeitigen Nutzer, um eine Änderung des Status quo zu erreichen und Innovationen auf inkrementelle Weise vorantreiben zu können. Nicht-Nutzer hingegen sind eher bereit, Kompromisse zwischen den Leistungsmerkmalen einzugehen. Sie begrüßen die Kompromisse nicht nur, sondern geben auch bewusst Impulse, die etablierte Paradigmen verändern oder eine Neudefinition fördern würden.
Wenn Unternehmen wirklich aus ihrer Komfortzone heraus wollen – und das müssen sie, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben – dann müssen sie mit Menschen sprechen, die sich ihrem Produkt oder Service auf eine radikal andere Weise nähern als sie selbst oder ihre derzeitigen Nutzer. Das wird sie zwingen, eine neue Perspektive einzunehmen und alternative Problemlösungsansätze zu finden. Wichtig ist: Sowohl Nutzer als auch Nicht-Nutzer sollten lediglich Input geben, keine fertigen Lösungen.
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